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Es klopft

Es klopft

Titel: Es klopft
Autoren: Franz Hohler
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Julia hatte ihr auch ihre Hilfe angeboten für den Fall, dass sie irgendetwas brauche. Danke, es sei alles in Ordnung, sie habe mit ihren Eltern in Amerika telefoniert und sie beruhigt, sagte die Frau, die sich Nela nannte.
    Manuels Zustand hingegen war kritisch. Auch seine Beine waren operiert worden, aber er hatte zusätzlich einen Beckenbruch und verschiedenste innere Verletzungen erlitten, die sich Julia gar nicht alle merken mochte, und lag seit fünf Tagen im Koma. Julia, der man ein Feldbett gegeben hatte,
war fast Tag und Nacht bei ihm, Thomas war am zweiten Tag aus dem Tessin gekommen und hatte ein Hotelzimmer genommen, und gestern Nacht war auch Mirjam aus Norwegen eingetroffen.
    Nun saßen sie zum erstenmal alle drei für eine Viertelstunde, die ihnen die Ärztin zugestanden hatte, um Manuels Bett; Mirjam schaute verstört auf die Schläuche, Flaschen, Kabel und piepsenden Oszillographen, die eher den Eindruck eines Laboratoriums denn eines Krankenzimmers erweckten. An all das Instrumentarium angeschlossen lag, wie das Objekt eines groß angelegten Versuchs, ein Mensch, welcher der Vater von Mirjam und Thomas und der Mann von Julia war. Sie waren ermahnt worden, leise zu sein, da der Patient größtmögliche Ruhe brauche. Julia saß am Kopfende des Bettes, beugte sich zu Manuel und flüsterte: »Thomas und Mirjam sind da.«
    Unter der Sauerstoffmaske regte sich nichts, man hörte nur das regelmäßige Atmen, und irgendein versteckter Lautsprecher gab das Klopfen seines Herzens wieder.
    Mirjam hielt sich an Thomas’ Arm fest und begann leise zu weinen. »Hat er denn noch nie etwas gesagt?« fragte sie ihren Bruder.
    Der schüttelte den Kopf.
    Mirjam konnte das alles nicht glauben. Die Fjorde Norwegens, die Wanderwege von einer Herberge zur andern, die Sonne, die aufging, kaum war sie untergegangen, helle Nächte, die keine waren, das Gekreisch von Möwen, das Hupen von Schiffen, die langen Gespräche mit ihrer Freundin Sandra, und nun sollte plötzlich das hier die Wahrheit sein.
    Thomas war entschlossen, nach diesem Besuch zurück
nach Zürich zu fahren. Er musste wieder mit Anna sprechen können, die am Telefon immer seltsam wortkarg gewesen war. Als erstes hatte sie gefragt, ob man wisse, wer die Autostopperin sei, und Thomas musste dies zuerst in Erfahrung bringen. Als er ihr sagte, es sei eine Amerikaschweizerin namens Manuela Fuchs, hatte sie so lange nichts gesagt, bis Thomas gefragt hatte, ob sie noch da sei, und sie war noch da, aber es sei ihr ein bißchen schlecht, wie oft in diesen Tagen.
    Mirjam stand auf, weil sie es nicht aushielt, sitzen zu bleiben, Thomas stand auch auf, und da waren sie, ratlos, am Bett eines Menschen, welcher der Versuchung zu sterben wohl nicht mehr lange widerstehen konnte.
    Die Ärztin trat ein und nickte ihnen zu, machte eine Handbewegung zur Tür hin und sagte zu Mirjam und Thomas: »Tja, es ist wohl besser …«
    Doch bevor sie sich zum Gehen wenden konnten, wurde die Tür aufgestoßen und eine riesige junge Frau mit gerötetem Gesicht kämpfte sich keuchend an ihren Krücken herein. Es war die Autostopperin.
    Die Ärztin stellte sich ihr in den Weg und legte ihre Finger an die Lippen, doch die Frau stieß sie mühelos weg, schleifte ihr eingegipstes Bein noch zwei Schritte näher zum Bett und schrie dann, so laut sie konnte: »Vater! Bleib da!«
    Entsetzt starrten alle das Monster an, das in die abgeschirmte Stille der Intensivstation eingebrochen war, und im ersten Moment sah niemand, wie Manuel die Augen aufschlug. Erst als er sich mit dem einen Arm, in dem keine Infusion steckte, die Sauerstoffmaske abnahm, merkten sie, dass er sich regte. Sofort eilte die Ärztin zu ihm und wollte
ihm die Maske wieder aufsetzen, aber Manuel behielt sie in der Hand.
    »Schön, dass ihr alle da seid«, sagte er. Seine Stimme war schwach und klang heiser.
    »Manuel, Lieber, du bist wieder da!« sagte Julia, und ein Schleier legte sich vor ihre Augen.
    »Ich muss mit euch sprechen«, sagte Manuel.
    »Später, Manuel, später.«
    Manuel schaute von Julia zu Thomas, von Thomas zu Mirjam und von Mirjam zu Manuela und sagte:
    »Nein. Jetzt.«

1. Auflage
Genehmigte Taschenbuchausgabe Juli 2009,
btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
    Copyright © 2007 by Luchterhand Literaturverlag, München,
    einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH
KS · Herstellung: SK
    eISBN : 978-3-641-03978-3

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