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Es klopft

Es klopft

Titel: Es klopft
Autoren: Franz Hohler
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für ihren Vater, wenn ihr Leben bisher ein Geheimnis geblieben war. Was sie vorhatte, kam einer Entlarvung gleich. Sie überlegte sich, ob sie sich schnell wieder davon machen solle. Aber dann dachte sie an die vielen Momente, in denen sie einen Vater in ihrem Leben vermisst hatte, und sagte sich, nein, jetzt gebe es kein Zurück, diese Begegnung habe sie zugut.
    Unterdessen behandelte Dr. Ritter seinen letzten Patienten,
einen Jungen, der nach einem Disco-Besuch einen Hörsturz erlitten hatte und dem er ein durchblutungsförderndes Medikament verschrieb, obwohl eine Reihe von amerikanischen Studien kürzlich ergeben hatte, dass dessen Wirkung keineswegs signifikant war. Aber der Bursche war beruhigt, als er hörte, dass man dagegen Tabletten einnehmen konnte. Manuel ermahnte ihn darüber hinaus, sich unbedingt Ohrenstöpsel einzusetzen bei seiner nächsten Disco-Party oder überhaupt bei lauter Musik, gab ihm auch ein Zweierpäcklein mit, gratis, wie er betonte, aus einer Präventionsaktion einer großen Krankenkasse.
    Als ihn Frau Weibel am Telefon fragte, ob er noch eine amerikanische Touristin mit Ohrenschmerzen nehmen könne, sagte er, er komme gleich, und entließ seinen Hörsturz-Patienten.
    Das Hämmern in Manuels Ohr hatte sich verstärkt. Es kam phasenweise in kurzen Abständen, und heute war es besonders arg. Gewöhnlich ebbte es nach einer Weile wieder ab, deshalb wollte er einen Moment warten. Eigentlich hatte er gehofft, es verschwinde ganz, als er die Gewissheit hatte, dass Anna nicht seine Tochter war. Seine Erleichterung darüber war groß, aber zugleich war ihm klar, dass er seinen Flecken im Reinheft damit nicht gelöscht hatte, im Gegenteil, er hatte ihn Anna gezeigt, und sie wusste nun etwas, das seine eigene Familie nicht wusste. Worum es genau ging, konnte sie zwar nicht wissen, aber es war klar, dass da etwas war, was Manuel verbergen wollte, und das war schlimm genug.
    Er schaute auf die Hodler-Reproduktion an der Wand, mit dem Montblanc, der sich aus einem Wolkenring über dem Genfersee erhob. Einmal war er auf diesem Gipfel gestanden,
in der Klarheit der Morgenfrühe, und um dieses Gefühl hätte er jetzt viel gegeben, in der letzten Zeit war er nur noch unter den Wolken. Es beruhigte ihn, sich mit halb geschlossenen Augen in den weißblauen Berg zu vertiefen. Er wusste nicht, wie lange er das Bild betrachtet hatte, aber das Pochen in seinem Ohr war leiser geworden.
    Um so stärker erschrak er, als es dreimal an die Tür klopfte. Er seufzte. Es war also nicht vorbei. Er wusste, dass es sinnlos war, »Herein!« zu rufen, aber er stand auf, weil ihm in den Sinn kam, dass noch eine Patientin im Wartezimmer war.
    Zu seiner Verblüffung stand direkt vor seiner Tür eine Hünin, die gerade die Hand angehoben hatte, um ein zweitesmal zu klopfen.
    »Sorry«, sagte sie und ließ die Hand wieder sinken, »I didn’t see your assistant anymore, and I just wanted to make sure you’re still here.«
    »Come in, please«, sagte Dr. Ritter und wies auf den Besucherstuhl. Manuela setzte sich und schaute ihn an, und sie musste sich gestehen, dass er ihr sofort gefiel. Sie wusste auf einmal nicht, was sie sagen sollte.
    »So, you are American?« fragte Dr. Ritter, der sich ebenfalls gesetzt hatte.
    Manuela nickte, sprachlos.
    »From which part of the States?« fragte er weiter.
    »Washington D. C.« sagte Manuela leise.
    Dr. Ritter lächelte. »Oh, from the capital. And what’s your problem?«
    Actually, sagte Manuela, we can speak German, denn sie wohne zwar schon länger in Amerika, sei aber Schweizerin.

    Aha, sagte Dr. Ritter etwas erstaunt, gut, und was denn nun ihr Problem sei.
    Manuela zog das Foto aus ihrer Tasche, das sie als Baby auf Monikas Schoß zeigte. Mutter hatte es für die Geburtsanzeigen verwendet, die sie verschickt hatte. Manuela hatte es aus ihrem Album herausgenommen und hielt es nun Manuel hin.
    »Sie kennen doch dieses Foto«, sagte sie zu ihm.
    Manuel schaute das Foto an und schaute Manuela an.
    Er wollte etwas sagen, aber die Stimmbänder schwangen nicht mit. Manuela schaute ihn an und schaute das Foto an. Sie wollte etwas sagen, aber ihre Zunge bewegte sich nicht.
    Dann, auf einmal, beugte sie sich vor, stützte sich mit den Ellbogen auf die Tischplatte, barg den Kopf in ihren Händen und wurde von einem nie gekannten Weinen überfallen. Tränen brachen aus ihr heraus, als schmölze ein Gletscher in ihrem Innern, sie schluchzte, sie heulte, sie wimmerte, sie winselte, und Manuel
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