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Es klopft

Es klopft

Titel: Es klopft
Autoren: Franz Hohler
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beugte sich über den Tisch, berührte mit seinen Händen ihre Unterarme und streichelte sie sacht.
    Er konnte es nicht fassen, dass dieses Riesenkind seine Tochter sein sollte. Er merkte, dass er sich immer ein schlankes, rankes und geschmeidiges Wesen vorgestellt hatte, wenn er an sie dachte, er war nie in der Lage gewesen, sie von der betörenden Erscheinung ihrer Mutter zu trennen.
    Wie viele Minuten waren so vergangen? Einmal klingelte das Telefon, Manuel nahm es nicht ab, aber Manuela richtete sich plötzlich wieder auf, fragte nach Taschentüchern, und Manuel hielt ihr eine Schachtel Kleenex hin, sie zupfte ein Tüchlein nach dem andern heraus, um ihre Augen abzuwischen, sich zu schneuzen, ihre Wangen zu trocknen, zerknüllte
sie alle und ließ sie auf dem Tisch liegen, von wo sie Manuel sorgsam weg hob und in den Papierkorb fallen ließ.
    »Sorry«, sagte sie, »I’m so happy, but it hurts, ich meine, es tut einfach weh, aber ich bin glücklich. Und Sie?«
    »Ich bin … berührt«, sagte Manuel. »Wie geht es Ihrer Mutter?«
    »Gut. Sie wollte auf keinen Fall, dass ich Sie suche. Nie. Sie habe es Ihnen versprochen, sagt sie. Aber ich habe Ihnen nichts versprochen.«
    »Und wieso haben Sie mich gesucht?« fragte Manuel.
    Ob da ein leiser Vorwurf in seiner Stimme war?
    »Ich wollte wissen, wer mein Vater ist.«
    »Und jetzt?«
    Manuela zuckte die Achseln. »Vielleicht sollten wir zusammen essen gehn, und Sie fragen mich, was ich so mache und wie ich all die Jahre verbracht habe.«
    »Das Problem ist«, sagte Manuel, »dass meine Familie nichts von Ihnen weiß.«
    »Außer Anna.«
    »Anna gehört noch nicht wirklich zur Familie. Haben Sie von ihr erfahren, dass sie bei mir war?«
    Manuela nickte. »Den Rest hab ich selber herausgefunden. Meine Mutter musste es zugeben. Aber sie hat dicht gehalten, 22 Jahre. Das fände ich eigentlich gut, wenn sie mich nicht belogen hätte dabei.«
    »Und Thomas?«
    »Thomas ist im Tessin, hat Anna gesagt. Er hat mich nicht gesehen, und ich glaube, sie hat ihm bis jetzt nichts von der Geschichte erzählt.«
    Manuel atmete auf.

    »Zum Glück«, sagte er.
    Manuela stand auf, Manuel ebenfalls.
    Sie ging um den Tisch herum und stand nun vor ihm. Sie war etwas größer als er, er musste zu ihr heraufschauen, und er roch ihren Schweiß, der sich in Halbkreisen unter den Achseln ihrer Bluse abzeichnete.
    »Das ist doch kein Glück«, sagte sie, »wenn jemand etwas nicht weiß, das er wissen sollte.«
    »Manchmal schon«, sagte Manuel. »Wie lang bleiben Sie in der Schweiz?«
    »Drei Wochen.«
    Manuel seufzte.
    »Ich wäre froh, wenn Sie keinen Kontakt mit meiner Familie suchen würden.«
    »Mit deiner Familie?« fragte Manuela, »und wer bin denn ich?«

24
    J ulia saß mit einer Tasse Alpenkräutertee in ihrer Ferienwohnung in Pontresina und schaute ins Feuer, das sie sich im Cheminée angezündet hatte. Sie war zu Beginn der Sommerferien ein paar Tage allein hierher gefahren, Manuel wollte nächste Woche nachkommen.
    Heute war sie ins Rosegtal gewandert und hätte eigentlich noch Lust gehabt, ein Stück gegen die Coaz-Hütte weiterzugehen, oder sogar bis zur Hütte selbst, doch der Weg war gesperrt, weil vor einigen Tagen eine Schlammlawine zu Tal gerutscht war, die auch eine Touristin unter sich begraben hatte. Die Nachricht hatte Julia erschreckt, offenbar war es nicht bei Regen oder Sturm passiert, sondern an einem Tag, der genau so schön gewesen war wie der heutige. Die Berge konnten ihre eigene Last nicht mehr tragen.
    Schon auf dem Weg ins Tal hatten sie die enormen Wassermengen des Baches beeindruckt. Hoch oben mussten ganze Eisgebirge am Schmelzen sein. Einmal war zwischen Bach und Wegrand eine Gämse gestanden und hatte sich andauernd um sich selbst gedreht. Währenddem sie diese beobachtete, fuhr der Wildhüter mit seinem Auto heran und bedeutete ihr durch die Windschutzscheibe, sie solle weitergehen. Trotzdem blieb sie stehen und fragte ihn, ob das Tier krank sei. Es habe, sagte der Wildhüter, und nahm dabei sein Gewehr vom Rücksitz, die Gämsblindheit. Wenig später hörte sie den trockenen Schuss. Als sie auf dem Rückweg
an der Stelle vorbeikam, sah sie das blutige Gras. Weiter unten kamen ihr drei Pferdekutschen mit Russen entgegen, die Champagnergläser in den Händen hielten und ihr lachend zuprosteten. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs kamen sie wieder ins Engadin, die Russen. Zur Zarenzeit waren es die Adligen gewesen, heute waren es die Neureichen. Auf der
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