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Es geht auch anders

Es geht auch anders

Titel: Es geht auch anders
Autoren: Helmut Lotz (Hg.)
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sehr gelacht.
    Bi-Bob brachte mir immer Platten mit von Cole Porter, George Gershwin, Louis Armstrong und vor allem von Ella Fitzgerald. Seit dieser Zeit bin ich ein hoffnungsloser Fan ihrer Musik und habe die Platten zum Anhören immer ins Café Keese mitgebracht (erschwingliche Plattenspieler für den Privatgebrauch gab’s ja damals noch nicht). Ließ Porter und Gershwin auflegen und sang darüber meine eigenen deutschen Texte.
    Irgendwelche Nachbarn hatten die Polizei gerufen, und in der kleinen, zum Bersten vollen und an Atemluft knappen Kneipe war man für kurze Zeit in Aufruhr geraten. »Lärmbelästigung« nachts um 1.10 Uhr.
    Die Show, durch die eine Moderatorin namens Renate Wanda de la Gosse, Kreuzbergs autonome Antwort auf Désirée Nick, herzerfrischend führte, war schon über zwei Stunden im Gange. An einem heißen Juliabend in einem völlig verrauchten und schwitzenden Raum. Das Kondenswasser floss in Strömen von den Ladenscheiben. Grund für den Andrang in der ansonsten nicht oft an Überfüllung leidenden Kneipe: Die allerkreativsten und ambitioniertesten Darsteller und Selbstdarsteller anarchistischer Bühnenkunst feierten zusammen mit einem ebenso schrillen, unbourgeoisen Publikum einen bunten Abend unter dem Motto »Titanic Light Show« in einer Bar, die auch noch Café Anal hieß. Wahrscheinlich hieß sie früher einmal Café Kanal, denn der Landwehrkanal liegt nur wenige Seitenstraßen entfernt. Irgendwann musste von den Lettern des Schriftzuges das K abgefallen sein, und so entstand der nun geläufige Name – wie eine fromme Legende die Entstehung des Barnamens zu erklären versuchte. In Wirklichkeit gab es nie einen Schriftzug …
    Der Schankraum, in dem eine überdimensionale Pappmaché-Muschel über dem Tresen und ein Spiegelscherbenspiegel hinter dem Spirituosenregal prangten, war dem ständigen fantasievollen Wandel der Dekorationskünstler und Raumgestalterinnen unterworfen. Die Shows, die darin stattfanden, wurden mit einiger Regelmäßigkeit von einem engagierten Team zusammengestellt und waren zum kulturellen Happening-Geheimtipp von Hausbesetzern, Wagenburg-Bewohnern, deren Sympathisanten, Freunden und anderen, ganz normalen Freaks geworden. Unter den zahlreichen Künstlern und Künstlerinnen, die sich an diesem Abend ein Stelldichein auf der Bühne gaben, befand sich eine Elvira Westwärts, ein Moser-Hans, eine Lilo (ohne Pulver) und Linda von Tonnstädt, Maria 2000, Paula Sau, die Haus, Kitty, Silvi, Tilly Creutzfeldt-Jacob, Richi und Wolf, Steffi Stoßmich, Marcus Egal, Chou-Chou de Briquette, Ovo Maltine, Gloria von Tunten und Blasen, Baella van Baden-Babelsberg und Fiese Margot.
    Und nun sollte diese letzte Show ein jähes, polizeilich verordnetes Ende finden? Ohne großes Finale und ohne meinen Auftritt, für den ich mir etwas Besonderes ausgedacht hatte? Meinen ersten Auftritt als Knef, dem ich den ganzen Abend, in einem klammen Kellergewölbe unter der Bühne sitzend, wartend, rauchend, trinkend entgegengefiebert hatte? Das konnte nicht sein. Also trank man oben etwas leiser und unten im Keller etwas schneller. Und nach einer halben Stunde Pause beschloss man weiterzuspielen!
    Renate Wanda de la Gosse kündigte mich mit ihrem schönsten Lispeln an: »Unsere nächste Künstlerin ist nicht mehr jung und nicht mehr hübsch. Sie ist alt. Quasi sehr alt. Es ist …« Und da stockte sie und blickte auf ihr Redemanuskript. »Irmgard … Knef … ja, tatsächlich!« Unter einem freundlichen Begrüßungsapplaus kam ich mit viel zu langer Perücke, viel zu dunkler Sonnenbrille im Seventy-Outfit mit Lackschnürstiefeln, eng anliegendem Chasuble und eierschalenfarbener Gabardineschlaghose auf die Bühne. Die Kostümteile hatte mir Paula Sau aus dem Altersheim, in dem er als Altenpfleger arbeitete, von einer jüngst verstorbenen Insassin mitgebracht. Den weißen Kapotthut hatte ich ungefragt einer Bekannten entwendet.
    Nachdem ich mich als Irmgard mit meinem Kreuzberger Schicksal kurz vorgestellt hatte, kam der erste Song – zur Musik einer Art Karaoke-Maschine, einem rechteckigen kleinen schwarzen Zauberkästchen, das als Wundermaschine kollektiv durch die Szene gereicht wurde, um aus Vollplaybacks authentische Halbplaybacks zu erstellen. Mithilfe dieses Geräts war es gelungen, aus Hildegards »Der alte Wolf« ihre Gesangsstimme so weit herauszufiltern, dass meine mit Mikrofon verstärkte Stimme locker ihren Gesang übertönen konnte. Hildes Stimme war nun kaum hörbar in den
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