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Es geht auch anders

Es geht auch anders

Titel: Es geht auch anders
Autoren: Helmut Lotz (Hg.)
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zusammengenagelten, ehemaligen Luftaufsichtsbaracke in Charlottenburg. Meist hatte ich Schicht, wenn noch nicht allzu viel los war. Das heißt, ich musste animieren und das Publikum zum Bleiben auffordern beziehungsweise die paar Leutchen, die schon früh da waren, vertrösten: »Warten Sie ruhig noch ein Weilchen, da kommt schon noch jemand!« Ich schrieb damals einen Text, den ich immer vor meinen Eintanzeinlagen dem stark damenüberschüssigen Publikum zu Gehör brachte. Ein Text, den ich heute noch in meinem Repertoire habe, weil ich ihn immer wieder leicht aktualisiere – work in progress by doing itself –, wenn Sie wissen, was ich meine …
    Eine dreiundachtzigjährige grauhaarige, fein gemachte Dame steht nach einem Konzert in Lehrte bei Hannover vor meinem improvisierten Signierstand, hinter dem ich, in voller Maske und im Bühnenkostüm, abgekämpft von einer anstrengenden Show, sitze und versuche, gewinnend in die Menge zu lächeln. Der Stirnschweiß perlt unter meiner Perücke und sucht sich als Rinnsal den Weg an die frische Luft. Mein Make-up hält stand, und dem Schweiß gelingt es nicht, meine Maske verschwimmen zu lassen und somit sämtliche Illusionen zu zerstören. Ein vom Veranstalter überreichter Strauß roter Rosen liegt neben mir.
    Die Dreiundachtzigjährige tätschelt meine Hände: »Also, das freut mich so, dass Ihre grauen Zellen noch so funktionieren. Also Ihre grauen Zellen!« Und sie tippt sich dabei an die Stirn. »Wie können Sie diese ganzen Texte noch so gut behalten?! Ich sag immer: Hauptsache, die grauen Zellen funktionieren. Und wissen Sie, was?« Neugierig auf das, was jetzt noch kommen mag, blicke ich sie schweigend an. »Bei Ihnen merkt man eben, dass das noch wirklich echte alte Schule ist.«
    Sie bittet um ein Autogramm, das ich ihr gerne – »mit besten Wünschen, Ihre Irmgard« – gebe. Sie entdeckt meine CDs, und nachdem sie die Booklets eingehend studiert hat, dann aber wieder ohne Kaufabsicht auf den Tisch legt, fragt sie mich: »Sie haben doch bestimmt auch Platten von Ihrer Schwester. Davon hätte ich gerne eine mit ihren größten Hits. Ich hab Ihre Schwester so bewundert. Schade, dass sie nicht mehr ist!« Ich muss sie enttäuschen und verweise auf den Fachhandel. Sie verabschiedet sich mit: »Und Ihnen alles Gute! Und Ihren grauen Zellen! Seien Sie stolz darauf!«
    Manchmal bin ich’s auch. Ob ich, Irmgard Knef, schwesterseelenallein oder als letzte Mohikanerin auf der Bühne stehe, egal, ich spiele drei Programme abwechselnd und bin meist allein. Es sei denn, ich gebe Konzerte mit meinen wunderbaren Musikern. Da besteht die Gefahr, meine grauen Zellen könnten mich im Stich lassen, durchaus. Schließlich bin ich nicht mehr der Jüngste, aber immerhin erst halb so alt oder doppelt so jung, wie meine Larve es dem Publikum weismachen will. Aber Irmgard hat sich gut gehalten, und ihr Gedächtnis funktioniert noch blendend. Vor ihren grauen Zellen kann man nur den Hut ziehen. Was die alles weiß und behalten hat! Seit Jahren steht sie auf Bühnen und erzählt eine Geschichte, die mir selbst immer noch vorkommt wie ein Märchen aus längst vergangenen Tagen:
    Was hatte ich noch von Hilde? Eine US-amerikanische Briefmarke, eine Postkarte und eine weiß-nicht-wie-vielstellige Zahlenaneinanderreihung, die mir in Aussicht stellte, wieder mit ihr in Kontakt treten zu können. Sollte ich nach Eingabe dieser Nummer tatsächlich ihre geliebte Stimme hören?
    Ich fasste mir ein Herz und habe sie dann tatsächlich vom Postamt am Flughafen Tempelhof angerufen. War ja fast um die Ecke: Fidicinstraße und Zentralflughafen liegen sehr dicht beieinander. Heute gibt’s dort kein Postamt mehr, und zum Telefonieren muss man das Haus auch schon längst nicht mehr verlassen.
    Die transatlantische Verbindung war sehr schlecht in jenen Tagen, wie Sie sich sicher denken können: Stalin saß auf sämtlichen Leitungen und hatte alle Zufahrtswege blockiert. Hinzu kam dieses permanente Start- und Landegedröhn der US-amerikanischen Rosinenbomber. Aber ich bekam dennoch ein Amt, nachdem lange genug vermittelt worden war. Es klingelte, sie hob ab, und noch bevor sie ihren Namen nannte, schimpfte sie in den Hörer, wem es denn einfiele, sie mitten in der Nacht anzurufen!? Ich habe ihre Aufregung nicht verstanden. Es war schon halb drei Uhr nachmittags. Wir unterhielten uns schließlich ein Weilchen, das heißt, aus ihr sprudelte es nur so heraus, während ich mich bemühte, kurz und knapp
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