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Es geht auch anders

Es geht auch anders

Titel: Es geht auch anders
Autoren: Helmut Lotz (Hg.)
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Seismografen für den Zustand eines Landes.
    Der Erfolg der Reihe »Es geht auch anders« und ihrer Autoren über mittlerweile zwei Jahrzehnte gründete darin, dass die abseitige Perspektive Erkenntnisgewinn bereithielt, auch weit über das jeweilige Getto hinaus. Außenseiter erleben mehr, und die Leser der Reihe konnten in Gestalt eines wohlfeilen Buches eine Welt kennenlernen, die weit von der ihren entfernt lag. »Ein Buch für alle«, schrieb Volker Hagedorn in der Hannoverschen Allgemeinen über Charlotte von Mahlsdorfs Autobiografie Ich bin meine eigene Frau , die 1992 bundesweites Aufsehen erregte.
    Die Autoren und Autorinnen dieser Reihe lupfen mitunter den Rock, stillen auch legitime voyeuristische Leserbedürfnisse, haben aber wenig gemein mit dem bis in die 1990er Jahre vorherrschenden Allerlei, dem Einerlei und dem Nebenbei, dem beliebigen Klatsch und Tratsch herkömmlicher Star- und Sternchenmemoiren, die auch heute wieder den Markt überschwemmen.
    Ihre Randperspektive ermöglichte den »anderen« Blick auf die Zeitläufte und auf dieses Land, das ja in jenen Jahren ein ganz anderes wurde – auch wenn unsere lieben Landsleute in der alten Bundesrepublik dies bis heute kaum zur Kenntnis genommen haben.
    Insofern entwickelte sich mit dem Erscheinen der Mahlsdorf’schen Autobiografie eines der ersten gesamtdeutschen Projekte auf dem Buchmarkt. Die Jahre nach der Wiedervereinigung waren eine Zäsur; ein Moment, Bilanz zu ziehen, wohnte ihm inne, und dies ermöglichte es wohl auch, dass die Randperspektive unserer Autoren Aufsehen erregte und für Diskussionen sorgte.
    Lotti Huber, mit der diese Reihe ihren Anfang nahm, brachte es unnachahmlich auf den Punkt: »Der Narr ist eben nicht nur der Vollidiot, der Purzelbäume schlägt und irgendwelchen Blödsinn von sich gibt. Der Narr ist eine soziale Notwendigkeit.«
    Peter Süß, im Dezember 2012
    Dr. Peter Süß ist Autor und war Mitherausgeber der Reihe »Es geht auch anders«.

Charlotte von Mahlsdorf
Ich bin meine eigene Frau
    Die dreißig Skinheads näherten sich Mahlsdorf mit Eisenstangen, Gaspistolen, Leuchtspurmunition und herausgebrochenen Zaunlatten.
    Ich spähte aus dem Fenster meines Gründerzeitmuseums in den Garten. An den Wäscheleinen schaukelten Monde aus Papier im Wind. Die rund achtzig noch verbliebenen Gäste feierten ein unbeschwert-harmonisches Frühlingsfest: Die Tina-Turner-Dublette hatte sich schon abgeschminkt, auch die Bauchtänzerin wippte nicht mehr vor den Gästen, sondern stand mit ihnen an der Cocktailbar. Würstchen wurden gegrillt, Schwule und Lesben tanzten, und der Mond schien wie auf einer Kitschpostkarte durch die Bäume des Parks.
    Schnell noch das Licht ausmachen und mal draußen gucken, dachte ich. Den ganzen Abend hatten meine Mitarbeiterin Beate und ich an diesem Maitag 1991 Gäste von nah und fern im Halbstundentakt durchs Museum geführt.
    Die letzte Lampe kaum gelöscht, hörte ich jenes Geräusch, klirrend hell, gegen das ich seit nunmehr vierundfünfzig Jahren allergisch bin: zersplitterndes Glas. Ein junger Mann stürmte, blass wie eine Leiche, ins Museum. »Du musst die Polizei rufen!«
    Die Neonazis droschen mit den Latten wahllos auf die Gäste ein. Alles ging wahnsinnig schnell. Meiner zweiten Mitarbeiterin Silvia schoss ein besonders Mutiger aus nächster Nähe mit der Leuchtpistole ins Gesicht, knapp neben das Auge. Bei einer jungen Frau aus München verfehlte das Geschoss sein Ziel nicht: Ihre Netzhaut wurde schwer verletzt. Einer Achtzehnjährigen schmetterten sie eine Zaunlatte auf den Schädel.
    Geschrei und Stöhnen mischten sich in das krachende Bersten der Infostände, die die Ostberliner Schwulengruppe aufgebaut hatte, und der Musikanlage, auf die der rohe Haufen martialisch einschlug.
    Die Bomberjacken stürmten die Tanzfläche. Dort stand, einem Leuchtturm gleich, ein Transvestit, im ausladenden Fummel und mit großem, rotem Schwingerhut. Sie wollten auf ihn einprügeln, zögerten aber feige, denn er hatte sich inzwischen ebenfalls mit einer Zaunlatte bewaffnet, war von gleißendem Scheinwerferlicht umhüllt und brüllte die Meute an: »Warum seid ihr so brutal?« Das wiederholte er zweimal, und plötzlich blieben sie stehen, blickten sich verwirrt an. Jemand rief: »Die Bullen kommen«, und die Jungnazis stoben auf und davon wie eine Herde in Panik geratenes Vieh. Mit ihrer Munition schossen sie noch auf den benachbarten Lumpenhof, tausend Tonnen Altpapier gingen in Flammen auf. Schreie,
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