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Es geht auch anders

Es geht auch anders

Titel: Es geht auch anders
Autoren: Helmut Lotz (Hg.)
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und der Morgen graute. Wir waren glücklich.
    Dann geschah es: Wieder einmal verabschiedeten wir unsere Gäste und winkten ihnen vom Balkon aus noch einmal zu. »Bist du glücklich?«, fragte ich Norman leise. Er legte seinen Arm um mich. »Ja, sehr. Aber weißt du«, begann er zögernd, »ich habe manchmal solche Schmerzen in der Brust. Ich sollte einmal zum Arzt gehen.« Ich erschrak. »Wie lange hast du diese Schmerzen schon?«, fragte ich. »Ach«, wich er aus, »schon eine ganze Weile.« Ebenso wie die deutschen waren die englischen Männer seiner Generation dazu erzogen worden, keine Schmerzen zu zeigen, besonders dann nicht, wenn sie fünfundzwanzig Jahre in der Armee gedient hatten – eine unglaublich dumme und gefährliche Einstellung.
    Ich ging mit Norman in die Klinik, wo er von oben bis unten untersucht wurde. Resultat: Angina Pectoris, schwere Arteriosklerose. Ich erschrak zu Tode. Norman war sich der Schwere dieser Diagnose überhaupt nicht bewusst. Unbekümmert lebte er weiter, so wie immer, weigerte sich, die verschriebenen Medikamente einzunehmen. »Diese Quacksalber!«, schimpfte er. »Jedes Mal, wenn ich die Pillen schlucke, geht es mir viel schlechter.« Das war klar: Wenn sich die Adern weiteten, um das Blut besser fließen zu lassen, hatte er Schmerzen. Ich bat ihn, ich flehte ihn an, seine Medizin einzunehmen. Er nahm mich in die Arme, küsste mich und sagte sorglos: »Die Hauptsache ist doch, dass wir glücklich sind. Und glücklicher als jetzt können wir nicht werden.« Noch immer klingen diese Worte, die er zwei Tage vor seinem Tod zu mir sagte, in meinen Ohren.
    Am Morgen des 11. Dezember 1972, einem Sonnabend, geschah es dann. Wir hatten Freunde zum Abendessen eingeladen und wollten zum Einkaufen ins KaDeWe fahren. »Darling, ich hole schon das Auto. Bitte sei fertig, wenn ich komme«, sagte Norman. In meinem Mantel stand ich im Flur und hörte, wie er die Treppen hinauflief. »Ready, Darling«, rief ich, »ich bin fertig.« Ich trat aus der Tür, um ihm entgegenzugehen. Da fiel er mir in die Arme und dann auf den Boden. Zunächst wusste ich überhaupt nicht, was passiert war. War er gestolpert? Aber worüber? Es gab doch keine Stufen vor unserer Wohnungstür. »Norman«, rief ich, »Norman! Um Gottes willen, hast du dir wehgetan?« Von einer schrecklichen Ahnung erfasst, klingelte ich an der Tür meiner Nachbarn. Drei junge Ärzte wohnten uns gegenüber, mit denen wir ab und zu mal ein Glas Wein getrunken hatten. »Norman«, stammelte ich, »Norman …« Sie liefen zu ihm, hoben ihn auf, legten ihn aufs Bett und sahen sich an. Sie wussten wohl schon, dass er tot war. Dennoch riefen sie einen Krankenwagen, um Norman ins Krankenhaus zu bringen. Das werde ich ihnen nie vergessen: Sie ersparten mir, mit ansehen zu müssen, wie er in einem Sarg aus dem Haus getragen worden wäre.
    In ihrem Auto fuhren wir hinter dem Krankenwagen her. Dann saßen wir im Wartezimmer des Krankenhauses. Schweigend blickten mich die jungen Männer an. »Er hat einen Herzinfarkt, nicht wahr?«, fragte ich. »Er wird sich doch erholen?« Die Antwort wurde ihnen abgenommen von einer Ärztin, die auf mich zukam. »Frau Huber, es tut mir leid, wir konnten nichts mehr tun.« Verständnislos blickte ich sie an. »Was soll das heißen, Sie konnten nichts mehr tun?« – »Frau Huber, Ihr Mann ist tot. Der Professor hat alles versucht. Es tut mir leid.« – »Nein, nein!«, schrie ich außer mir. Eine Krankenschwester reichte mir zwei Tabletten: »Nehmen Sie die, das wird Sie beruhigen.« – »Nimm sie doch selber!«, schrie ich und warf die Pillen auf den Boden. »Wo, wo ist er? Ich will ihn sehen!« – »Im Leichenhaus.« – »Ich muss ihn sehen!«, schrie ich verzweifelt. »Wo ist das Leichenhaus?« Ich lief über den Hof, meine jungen Freunde, die Ärzte, hinter mir her.
    Ein Mann in weißem Kittel kam aus dem Haus. »Mein Mann! Ich will meinen Mann sehen!« Ich war wie von Sinnen. »Er ist gerade hier eingeliefert worden.« – »Das geht nicht, ich habe jetzt Tischzeit«, antwortete der Mann völlig ungerührt. »Was!?« Ich hätte mich auf ihn gestürzt, hätten die jungen Ärzte mich nicht aufgehalten. Einer von ihnen ging auf den Mann zu und sprach eindringlich auf ihn ein. »Nun gut«, sagte er, »aber nicht lange.« Wir gingen in die Halle, und er rollte eine Bahre heran. Unter einem weißen Laken lag Norman. Mit unglaublicher Intensität blickte ich in sein Gesicht. Wie schön er war! Sein schmales
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