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Es geht auch anders

Es geht auch anders

Titel: Es geht auch anders
Autoren: Helmut Lotz (Hg.)
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steht, hat Berlin den Engländern zu verdanken. Wir haben verhindert, dass die Franzosen sie nach Paris schleppten.« Zum Glück steht die Siegessäule im englischen Sektor der Stadt. »Dafür bekommst du einen dicken Kuss«, freute ich mich, »und du darfst mir einen Drink spendieren.« – »Wo?« – »Im Kem-pin-ski«, ahmte ich seine gedehnte Sprechweise nach. O Berlin, wie schön du bist, wie aufregend, wie stimulierend – und wie glücklich bin ich wieder.
    Wie in London geplant, eröffnete ich eine Mannequin-Schule. Norman und ich verwandelten das große Berliner Zimmer unserer Wohnung in ein Studio. Und dann war es so weit: Ich setzte eine Annonce in die Zeitung. »Mannequin-Studio, Dressmen-Studio, Schule der Dame, Schule des Herrn. Neueröffnung.« Ich bekam viele Anmeldungen, aber auch viele dumme Fragen. In den sechziger Jahren hatte man in Berlin eine ganz andere Einstellung zum Beruf des Models als in London. Ein Model, ein Mannequin? Das klang in Berlin irgendwie anstößig. Noch immer war die Prüderie der vierziger und fünfziger Jahre zu spüren. Hinzu kam, dass in den Berliner Tageszeitungen Callgirls sich in ihren Annoncen oft Models nannten. Das war natürlich eine Katastrophe für die Schule. Ich bekam die unmöglichsten Anrufe: »Wir haben eine Party, schicken Sie uns mal ’n paar Puppen rüber.« Besorgte Mütter fragten mich immer wieder, ob es auch anständig zuginge. Viele glaubten sogar, dass solche Schulen mit internationalem Mädchenhandel zu tun hätten. »Lassen Sie Ihre Tochter ins Büro gehen. Dann kann sie sich mit den Gelüsten ihres Bosses auseinandersetzen. Hier wird nicht gelüstet!«, war meine wütende Reaktion. Nur wenige ahnen, wie schwer der Beruf eines Models ist und was für eine puritanische Lebensweise er erfordert. Und ob man groß rauskommt, steht in den Sternen.
    Mit der Zeit langweilte ich mich. Es irritierte mich auch immer mehr, Träume zu verkaufen, die sich vielleicht nie realisieren würden. Kurz gesagt, meine Schule machte mir keine Freude mehr. Aber ich hatte eine neue Idee. Ich wollte jungen Frauen – ob schlank oder dick, ob groß oder klein – ein neues Körpergefühl vermitteln, ein Körper-Selbstbewusstsein, das ihnen ein neues Ich-Gefühl geben sollte. Mit gymnastischen Übungen und tänzerischen Improvisationen gestaltete ich einen solchen Kurs. Aus den verschiedensten Stoffen wurden Fantasiegewänder hergestellt: Schleppen, Schals, wallende Umhänge, bizarre Hüte, Fächer, Federn, Schirme, Handschuhe und was-weiß-ich-nicht-alles. Und vor allen Dingen Musik – ernste und heitere, kitschige und klassische, bis hin zu Popmusik. In dieser Atmosphäre zeigten meine Schüler Talente, die mich oft in Erstaunen versetzten. Ihre Darbietungen waren nicht selten bühnenreif. Der Kurs wurde ein großer Erfolg, und ich fühlte mich wohl dabei.
    Hin und wieder erschien Norman im Studio, mit einem rolled umbrella, einem bowler-hat und seinem Monokel im Auge. Jedes Mal, wenn er in seinem fließenden Deutsch und mit seinem entzückenden englischen Akzent erklärte, wie man in England einen Regenschirm rollt, und dann lässig sein Monokel aus dem Auge in die Hand und dann in die Jackentasche gleiten ließ, brach ein Sturm der Begeisterung über Normans kleine London-Show aus.
    Talente sind oft verschüttet, aber können auch entdeckt werden. Wenn meine Schüler mir um den Hals fielen: »Lotti, Lotti, ich wusste ja gar nicht, was alles in mir steckt«, war ich glücklich. Im privaten Kreis entstand so manche Theater-, Tanz- und Pantomimengruppe. Nun hatte meine Arbeit den Sinn gefunden, den ich ihr geben wollte.
    Nach und nach hatten wir einen wunderbaren Kreis deutscher Freunde und konnten uns der vielen Einladungen kaum erwehren. Auch seine Arbeit bei den Amerikanern gefiel meinem Mann sehr – nur die Sprache, die Sprache! Sie beleidigte sein britisches Ohr. »Terrible«, sagte er, »terrible, darling. I speak English and they speak American.« Ach, mein Norman, mein geliebter, versnobter Engländer!
    Oft luden wir Gäste ein, die wir fantasievoll bewirteten. Aber am schönsten war es, wie Norman immer wieder feststellte, wenn wir alleine waren in unserem »Kabüschen«. Der kleine Raum war früher das Dienstmädchenzimmer gewesen, wir hatten ihn als unseren Talkroom eingerichtet. Wie oft saßen wir hier zusammen, eine Flasche Whisky auf dem Tisch, und diskutierten über Gott und die Welt und die Unsterblichkeit der Maikäfer, bis die Flasche leer war
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