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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen
Autoren: Thomas Bernhard
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»gerissenen« Eigenheiten. Er sprach das Wort »Einsamkeitshysterie« aus, das er gehört oder gelesen haben mußte, es war nicht von ihm. Nicht mehr ins Körperliche des Sträflings ginge die moderne Bestrafung, sondern ausschließlich nurmehr noch tief ins Seelische, sie dringe dahinein, wohinein früher, vor fünfzig Jahren noch, nichts gedrungen sei. Erklären könne er, was er meine, nicht. Menschenverstörend arbeite die heutige Justiz, und ich dachte: als eine Wissenschaft für sich. Der Anblick seiner neueingekauften Kleiderbrachte mich wieder auf den Gedanken, wie Winkler so rasch wie möglich zu Geld kommen könne. Die Gefahr, daß er sich von der Außenwelt völlig abschließt, abschließen mußte, wenn er sich nicht schon von ihr abgeschlossen, aus ihr, bei der ersten Berührung mit ihr, zurückgezogen hat, war zu offensichtlich, als daß ich ihn hätte sich selbst überlassen können. Ich stellte mir vor, wie der Ankauf seiner Kleider, in welchen er wie zum Hohn steckte, in einem Vöklabrucker Geschäft am Vormittag – und vielleicht hatte er sie sich nur meinetwegen gekauft? – vor sich gegangen war, wie er, Winkler, wohl auf die Schwester hörte, aber doch, während des Anprobierens, wieder nicht auf sie hörte, fürchterliche Kleiderankaufentscheidungen fällte, wie seine Schwester viele seiner Schimpfwörter hat einstecken müssen (sie hätte sehen müssen, daß ihm der Mantel an den Schultern zu groß war, im ganzen aber doch wieder zu eng); das Zusammenlaufen der im Kleiderhaus Angestellten in der Mantelabteilung; Winklers Befehlston den bleichgesichtigen dummen Mädchen gegenüber, dann wieder seine jedes Frauen- und Mädchenherz aus der Fassung bringende naiv-rustikale Männlichkeit, Angeberei. Wieder getraute ich mich, weil ich ihn genügend abgelenkt wußte, ihm den Vorschlag zu machen, er solle sich, auf eine Nacht nur, in eines der verhältnismäßig gut ausgestatteten und billigen Gasthäuser an der unteren Traun legen und anderntags zu mir kommen, ich hätte Zeit für ihn, meine Geschäfte seien jetzt überraschend ein wenig zum Stillstand gekommen; ja, ich hatte die Absicht, ihn am nächsten Morgen einzuladen, sprach diese Absicht aber nicht aus. »Inzwischen«, sagte ich, aber ich belästigte ihn nur mit dem, was ich sagte, »habe ich ein paar Adressen, ein qualifizierter Arbeiter ...« Ich schwieg und nahm mir vor, nachdem Winkler fort wäre, bei einer oder der anderen Zimmerei anzufragen, ob sie Interesse an Winkler hätte. Ich sah in der Stellungssuche für ihn keine Schwierigkeit. Er solle sich den Kopf nicht zerbrechen, sagte ich, und ich entdeckte, daß ich, wenn michnicht alles täuschte, schon wieder die ganze Zeit zu einem Menschen redete, der mir, auch wenn er so tat, als höre er zu, aus Höflichkeit, gar nicht zuhörte, dessen Gedanken überall, nur nicht bei mir waren. Nur sein Körper sitzt da, dachte ich, Winkler ist zwar in meiner Kanzlei, aber seine Gedanken sind nicht in meiner Kanzlei. In den ersten Nächten nach seiner Entlassung, er habe sich zuerst, »in einem besseren Zustand«, nicht entschließen können, in einem Gasthaus zu übernachten, er hatte sich keinem Haus in die Nähe getraut, geschweige denn einem Menschen, habe er entsetzlich gefroren; es sei ihm einfach nicht möglich gewesen, irgend jemanden anzusprechen und so sei er die ganzen Tage und Nächte fast ausnahmslos im Freien umhergegangen, nach Möglichkeit in den Wäldern, wo er annehmen mußte, daß ihm niemand begegnet. In manchen Wäldern sei Wärme, sagte er, in anderen nicht. Völlig entkräftet habe er dann doch ein Gasthaus aufgesucht, gegen Mitternacht, »da wird man nicht so genau kontrolliert«, sagte er. Ohne Rücksicht auf sein Geld sei er nurmehr darauf bedacht gewesen, nicht mehr frieren zu müssen. » Wie ich gefroren habe!« sagte er. Die ihm zuletzt verbliebene Hälfte seines Geldes habe ihm ein Kirchtagsordner aus Lambach, den er vor einem Gasthaus in Stadl Paura getroffen hatte, während Winkler eingenickt war, aus der Manteltasche gezogen, er habe »den Kerln« aber noch im letzten Augenblick stellen können. Er sprach auch von dem Glück, das es für ihn gewesen sei, mehrere große Zeitungen zu besitzen, mit welchen er sich in einem Hohlweg bei Wimsbach habe zudecken können. Zum Trinken, meinte er, hätten ihn die Gasthäuser wohl in ihre Wärme hineingelassen, zum Schlafen nicht; sein Aussehen sei zu schäbig gewesen. Zwölf Tage lang habe er es auf diese Weise aushalten
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