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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen
Autoren: Thomas Bernhard
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Landarbeitsmenschen. Ganz undeutlich war mir, wie ich jetzt sah, Winkler gewesen, als seine Schwester mir von ihm gesprochen hatte, ein anderer als der, der jetzt vor mir stand. Nur seine Stimme hatte ich, noch bevor er hereingekommen und ein einziges Wort gesagt hatte, gehört; Stimmen merke ich mir ein für allemal. Wie die aller Untergeordneten, Ausgeschlossenen, war seine Redeweise plump, überall offen, einem Körper voller Wunden vergleichbar, in die jeder jederzeit Salz streuen kann, aber so eindringlich, daß es schmerzhaft ist, ihr zuzuhören. Er sei gekommen, um mir zu danken, für was, wisse ich selber. Ich hätte »das Beste« für ihn herausgeschlagen. Das Gericht und die Zeit, in die sein Verbrechen gefallen sei, wären ihm von Anfang an feindlich gesinnt gewesen; ein Gericht müsse anders sein; er sagte aber weder das Wort ›unvoreingenommen‹ noch das Wort ›objektiv‹. Er erinnerte mich augenblicklich an meine Besuche in seiner Zelle während seiner Untersuchungshaft. Vieles, an das er mich im Zusammenhang mit meinen Bemühungen um ihn, die nichts als eine Pflicht gewesen waren, erinnerte, hatte ich längst schon vergessen; er hatte sich ganze von mir vor fünf Jahren zu ihm gesprochene Sätze vollständig gemerkt. Die Anhänglichkeit Winklers, die mir aus allem, was er sagte und was er nicht sagte, deutlich wurde, bestürzte mich. Im ganzen erschiener mir übertrieben und gefährlich zugleich. Immer wieder meinte er, ich sei ihm »nützlich« gewesen. Es hatte den Anschein, als habe er den Kontakt mit mir in den ganzen fünf Jahren nicht einen einzigen Augenblick aufgegeben. Ich selber hatte Winkler schon in dem Moment, in welchem er aus dem Gerichtssaal geführt worden ist, vergessen gehabt, ein Anwalt erledigt den Fall eines Klienten kurz nach dem Schuldspruch; ich erinnerte mich: auf der Straße war auch der Fall Winkler aus meinem Kopf ... Er habe mir im Laufe der Jahre schreiben wollen, immer wieder sei er aber davor zurückgeschreckt. »Ich bin ein dummer Mensch«, sagte er; mehrere Male sagte er: »Ich bin ein dummer Mensch.« Ich forderte ihn auf, Platz zu nehmen. Er setzte sich mir gegenüber; ich rückte das Licht in die Mitte des Schreibtisches, dann aber wieder weg und löschte es schließlich ganz aus, denn er wollte kein Licht, und man sah ja auch so genug. Ich mag auch kein Zwielicht. Wie gut, daß der Schreibtisch zwischen ihm und mir ist, dachte ich, dann fing er, auf den Boden schauend, längere Zeit von besonderen Erlebnissen in der Strafanstalt zu reden an, schließlich von der Eintönigkeit und von der völligen Überraschungslosigkeit, die dort herrschen. Er redete und sinnierte und redete wieder. Ich wüßte alles, meinte er. Wie auf alles bezogen, könne man auch, was die Strafanstalt und ihre Gesetze und Gesetzlosigkeiten betrifft, dafür und dagegen sein. Die Zeit sei ihm von Tag zu Tag länger geworden. Über die Aufsichtsorgane, nicht über das Essen beklagte er sich. Von seiner Zelle aus habe er in einen Wald schauen können, manchmal auch über den Wald hinaus auf eine Bergkette. Die Qual, mit der Zeit nicht fertig zu werden, sei in der Unfreiheit, in Strafanstalten und Kerkern, am größten. Er habe in der Zimmerei gearbeitet. Von Vergünstigungen war bei ihm keine Rede, die habe er sich immer alle verscherzt. Die Fähigkeit, sich mit einem Minimum an Spielraum, wie es in der Strafanstaltszelle sein muß, lange Zeit nur mit seinem eigenen Körper, sonst nichts, zu begnügen, sei ihm zugutegekommen. »Aber, was man alles sieht!« sagte er. Er erinnerte sich an den Augenblick der Urteilsverkündung, an die Stille im Gerichtssaal, während es draußen zu schneien anfing. Diese Einzelheit hatte ich völlig vergessen. Körperliche Züchtigungen hätten sich die Garstener Aufsichtsorgane, was ihn betrifft, nicht erlaubt, er sei aber auch nie während der ganzen fünf Jahre rabiat geworden. »Recht und Unrecht«, meinte er, darüber könne ein Mensch wie er viel nachdenken, weniger sagen. Es waren, die Strafanstalt Garsten betreffend, einige bemerkenswerte Auffälligkeiten, von welchen er mir Mitteilung machte. Ich fragte ihn, was er jetzt zu tun gedenke. Obwohl ich ja wußte, daß davon keine Rede war, fragte ich, ob er sich schon nach einer Arbeit umgeschaut habe, und dann, er solle sich schleunigst »und mutig«, sagte ich, darum kümmern. Für einen Zimmerer sei es nicht schwierig, eine Arbeit zu finden. In seinem Fach sei er gut. »Überall wird gebaut«, sagte ich,
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