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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen
Autoren: Thomas Bernhard
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»je weniger Handwerker es gibt, desto besser für jeden einzelnen.« Aber was ich, in einem möglicherweise viel zu belehrenden Ton sagte, machte auf ihn keinerlei Eindruck. Ich fragte mich auf einmal, ob der Mensch nicht verloren sei. Er sagte, für ihn sei schon alles zu spät, es gäbe nichts mehr, das in Angriff zu nehmen sich für ihn noch auszahlte. »Nichts. Nichts«, sagte er. Auch nichts, auf das er noch einen Anspruch hätte. Er habe alle Ansprüche längst »verwirkt«. Das großstädtisch fade Wort hatte, von ihm ausgesprochen, keinerlei Klang, es hörte sich aber doch mystisch an und erschütterte. Schon allein der Gedanke, sich wieder von seinem Sessel erheben zu müssen, verursache ihm jenen Kopfschmerz, an dem er schon jahrelang leide. Unmöglich, sich noch einmal in seinem Leben, das auch »verhunzt« sei, bei einem der Unternehmer, Zimmerer, Baumeister vorzustellen. »Alles viel zu spät«, sagte er. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht die richtige Vorstellung von dem Ernst der ganzen traurigen wie auch gespenstischen Situation gehabt, und ich regulierte, was ich sagte, ganz bewußt, in eineRichtung, in einen Begriff hinein, die ihm zuwider waren: ich sagte jetzt immer wieder nur: Arbeit! Dann aber sah ich die Unsinnigkeit meines Vorgehens und retirierte. Sein Argument: in Ischl, wo jeder über jeden alles wisse, fände er keine Arbeit und woanders hin wolle er nicht, beruhte natürlich auf einem Irrtum, aber ich entgegnete nichts; mir schien, als müsse ich ihn in Ruhe lassen. Er wisse, daß er nicht mehr zu seiner Schwester zurückkehren könne, aber andererseits ... und dann wieder: der größte Fehler sei es gewesen, bei ihr, »die selber nichts hat«, Unterschlupf, Beruhigung zu suchen. Immer wieder sagte er, wie sehr sie sich vor ihm fürchte: »vor mir!« rief er aus. Er sagte: »Wohin gehen? Vöklabruck war das nächste ...« Den Vorwurf, er habe seiner Schwester in ein paar Tagen, »rücksichtslos«, sagte ich, das ganze Geld abgenommen, ließ er nicht gelten; sie bekäme, was er ihr schuldig sei, zurück. Ich wisse, sagte ich, daß er sie täglich bedroht habe. Es war jetzt ein Menschenlärm auf der Straße, den ich absichtlich überging. Ich würde, sagte ich, versuchen, ihm rasch einen Arbeitsplatz zu verschaffen. Ein guter Arbeiter, Winkler sei einer, sagte ich, habe, auch wenn er Winkler heiße und auch in der Stadt Ischl, nichts zu fürchten, im Gegenteil, jeder nehme ihn mit offenen Armen auf. »Die Leute«, sagte ich, »schauen nur auf die Hände.« Ich bot ihm eine mir angemessen erscheinende finanzielle Unterstützung für die bevorstehende Nacht an, sie würde besonders kalt werden, sagte ich, und er müsse sich ausschlafen, er lehnte es aber ab, von mir Geld anzunehmen. In ein paar Tagen sei er untergekommen, meinte ich, ich wollte nicht aufgeben, das sagte ich mir: gib nicht auf! vielleicht sei er »schon morgen« beschäftigt, dann verdiene er und könne alle Schulden zurückzahlen, und es ginge bergauf, rasch bergauf. Er solle sich ausschlafen und mit klarem Kopf wiederkommen; ich stünde ihm jederzeit zur Verfügung. Er hörte nicht zu. Er schaute auf den Kukuruzkolben, den ich, weil ich das mag, auf dem Fensterbrett liegen hatte. Als ob ihn die fünf in die Längegezogenen Jahre in der Strafanstalt von der Sinnlosigkeit jeden, auch des geringsten, des unscheinbarsten Lebenszeichens überzeugt hätten, ging er gar nicht auf das, was ich gesagt hatte, ein, sondern er fragte auf einmal, und die Beziehungslosigkeit des von ihm gesprochenen Satzes, der dann lang zwischen ihm und mir in der Luft hing, erschreckte mich: wieviel Geld man haben müsse, um so weit wegreisen zu können, daß man unter keinen Umständen mehr in Mitleidenschaft gezogen werden könne ... Ein qualvolles Auflachen meinerseits mußte ihn tief verletzt haben, denn er schwieg auf diese Ungeschicklichkeit, die eine Unzucht gewesen war, mehrere Minuten lang völlig bewegungslos. Vorsichtig ließ ich mir dann von ihm eine Beschreibung seines Geburtsortes geben, eines Dorfes in den Niederen Tauern, die er auf einmal, furchtlos, schien mir, mit Beschreibungen seines Schulwegs, seiner Lehrer, seiner Eltern und seiner Schwester ausschmückte. Eine Vorliebe für winkelige Gassen, frischgeschlachtetes Fleisch seinerseits fiel mir auf; seine Einstellung zu Verstorbenen, zu politischen Gewaltakten auf dem Land; den Sozialismus, Parteien überhaupt, lehnte er ab. Man kann einer solchen Art von Mensch viele Fallen
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