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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen
Autoren: Thomas Bernhard
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können, keinen Tag länger. Schließlich sei er, ohne einen Groschen, nach Vöklabruck, und zwar gegen die ganz natürlichen Widerstände in ihm, zu Fuß, über Wiesen und durch Wälder, zu seiner Schwester. Die sei bei seinem Anblick erschrockenund habe ihn nicht zu sich ins Zimmer hineinlassen wollen. Er sei wieder fort und habe sich einem in einer ähnlichen Lage wie er Befindlichen angeschlossen; beide seien sie, von seiner Schwester auf die vielen entsetzlichen Wege in Kälte und Finsternis zurückgezwungen, schließlich wieder in mehrere Gasthäuser und dann, auf Anraten des ihm völlig unbekannt Gebliebenen, der einen Schlosseranzug angehabt hatte (»Ich habe mir nicht einmal seinen Namen gemerkt!«), wieder zur Schwester zurück. Sie habe, sagte der Zimmerer, von Anfang an vor ihm Angst gehabt, dieselbe Angst wie vor seiner Haftzeit, an dieser ihrer Angst ihm gegenüber habe sich seit ihrer Kindheit nichts geändert gehabt, diese ganz bestimmte, nur mit ihm und seinem Unglück zusammenhängende Angst. Sie glaubte, er würde ihr Zimmer in Unordnung bringen, ihre Hausfrau könne ihr unter dem Eindruck des plötzlichen Auftauchens Winklers kündigen. Sie habe auch um ihre Stellung in der Gerberei gebangt. Um fünf habe er sie tagtäglich von der Gerberei abgeholt; ihre Arbeit dort bezeichnete er selbst als »schwer«. Auf dem Heimweg habe sie sich für ihn geschämt, und der Gedanke, ihn neu einzukleiden – was er angehabt hatte, war schon über zehn Jahre alt gewesen! –, war ursprünglich sogar von ihr ausgegangen. Als sie dann aber eingesehen hatte, daß sie, wenn sie ihm neue Kleider kaufte, ihre ganzen Ersparnisse verlieren würde, wollte sie zurückziehen. Es war aber zu spät: Winkler zwang sie am fünfundzwanzigsten vormittags, kurz bevor mich die beiden aufsuchten, zur Herausgabe ihres Geldes und in das Kleidergeschäft. Sie selber hat von einer jetzt langsam fortschreitenden Beschmutzung ihres Wesens durch Winkler gesprochen. Den ersten Abend habe sie sich geweigert, ihn neben sich auf dem Fußboden schlafen zu lassen, aber eine andere Möglichkeit bestand nicht. Er habe sich »wie ein Hund« neben sie auf den Boden gelegt. Da keine Decke vorhanden war, hatte er mit ein paar alten Ausgaben des ›Linzer Volksblattes‹ vorlieb nehmen müssen. In der erstengemeinsamen Nacht hatte keiner von ihnen geschlafen. Wortlos sinnierten sie in der kleinen Kammer unter dem Dach des Hauses ›Im Graben‹. Wieder dachte ich, Winkler war auffallend ruhig geworden, daß seine einzige Rettung ein Arbeitsplatz sei. Aber die Schwierigkeiten, ihm das klarzumachen, hatten sich zu diesem Zeitpunkt schon schmerzhaft vergrößert gehabt. Noch während die Leute in Haft sind, gehört, von seiten der Justiz, für sie ein Arbeitsplatz und ein Quartier beschafft, sonst werden die Männer gleich wieder straffällig; die Schuld trifft den Staat, die Gesellschaft; die Behörden verschaffen den Haftentlassenen nichts als das Fürchterliche der plötzlichen Freiheit, immer wieder Ursache zahlloser Rückfälle durchaus Besserungsfähiger. Die Behörde begeht dadurch immer wieder diese hundsgemeine Nachlässigkeit. Die Justizbehörde ist, unter Außerachtlassung ihrer Obsorgepflicht gegenüber den Ärmsten, ausgesprochen verbrecherisch. Allein die Justiz hat von seiner vorzeitigen Entlassung schon mindestens vierzehn Tage vor dem Termin gewußt. Sie hätte ihm eine Arbeit verschaffen müssen. So halst der Staat sich immer wieder selbst die abzuschaffenden, abschaffbaren Übel auf! Ich selber bin von Winklers plötzlicher Entlassung völlig überrascht worden, wenngleich ich auch, ungefähr vor einem Jahr, einen Antrag auf seine ›Entlassung vor der Zeit‹ an das Justizministerium gestellt habe. Aber diese Anträge sind obligatorisch und führen meistens auch nur in Fällen, in welchen es sich um fügsame, »nicht gemeingefährliche« Häftlinge handelt, zum Erfolg. Winkler hatte meiner Meinung nach nicht die geringste Aussicht, vorzeitig entlassen zu werden; dem widerspricht auch ganz seine Häftlingsbeschreibung, die ich erst kürzlich studiert habe. Solche überraschende Entlassungen führen in fast allen Fällen unweigerlich zu Komplikationen, meistens in die Katastrophe. Winkler hat, außer seiner Schwester, keinerlei Verwandtschaft mehr. Möglicherweise stand seine Entlassung in Zusammenhang mit dem im März in Garsten in Angriff genommenenUmbau des straßenseitig gelegenen Strafanstalttraktes, in welchem Winkler
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