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Goldfasan

Goldfasan

Titel: Goldfasan
Autoren: J Zweyer
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    Montag, 22. März 1943
    A uf Flucht standen drakonische Strafen. Schon der Versuch konnte das Leben kosten. Er wollte jedoch gar nicht fliehen, sondern sie nur besuchen. Wenigstens kurz, eine halbe Stunde vielleicht. Ihr Gesicht sehen, den Geruch ihres Haares atmen. Nur für Minuten. Das war ihm das Risiko wert. Dann würde er wieder in das Lager zurückkehren.
    Seit drei Jahren arbeitete er in Deutschland, dem Land, von dem seine Großmutter immer so geschwärmt hatte. Gebildet seien die Menschen dort, hatte sie ihm erzählt, wohlhabend.
    Die Deutschen, mit denen er jetzt zu tun hatte, waren anders. Gleichgültig die meisten, einige brutal. Sie hatten ihn am Bahnhof seiner Heimatstadt verhaftet und ihn nur mit dem, was er auf dem Leibe trug, mit anderen in einen Viehwagen gesteckt und nach Deutschland verfrachtet. Zum freiwilligen Arbeitseinsatz, wie das die Häscher lachend genannt hatten. Dummerweise hatte er die Frage des Offiziers, ob er Deutsch spreche, bejaht. So hatte man ihn in das fremde Land geschickt.
    Tagsüber schufteten sie wie Sklaven in großen und kleinen Betrieben, nachts wurden sie einkaserniert und bewacht. Wer nach Einbruch der Dämmerung auf den Straßen aufgegriffen wurde, bezahlte schwer dafür.
    Das Lager nördlich des Herner Stadtparks umfasste nicht mehr als drei Baracken. In jeder schliefen fast fünfzig Männer. Ein großer Raum mit zwanzig Schlafstätten, drei Betten übereinander. Nur fünf Stühle. Ein Tisch. Geheizt wurde mit einem viel zu kleinen Ofen. Das wenige, was man ihnen als Brennmaterial zugestand, war in wenigen Stunden verbraucht. Der Abort war ein Loch in der Erde mit einem Holzverschlag darüber. Eiskalt im Winter, erbärmlich heiß und stickig im Sommer. Stand der Wind ungünstig, regnete es hinein, denn es gab keine Tür. Waschen konnten sie sich im Inneren der Baracke. Neben dem Eingang befand sich hinter einer Holzwand ein Waschbecken für fünfzig Männer.
    Langsam schob er sich von seiner Pritsche. Nur kein Geräusch verursachen. Er zog die Hose an, streifte den dicken Pullover und die wattierte Jacke über. Dann lauschte er. Nichts. Nur das regelmäßige Atmen und rhythmische Schnarchen der Männer. Er schlich zwischen den Betten Richtung Fenster, das immer offen stand, solange es draußen nicht Stein und Bein fror.
    Die Schuhe hielt er in der Rechten. Er würde sie erst anziehen, wenn er die Baracke verlassen hatte. Ruhig, nur ruhig.
    Sein Bettnachbar zur Linken drehte sich, als er seine Schlafstatt passierte. Für einen Moment öffnete der Mann die Augen, sah seinen Kameraden, wollte zum Sprechen ansetzen. Schnell hielt er dem Liegenden den Mund zu und flüsterte: »Uspokój śię. Sei ruhig. Schlaf weiter. Śpij dalej. Niedługo bendę spowrotem. Ich bin bald zurück.«
    Der andere nickte mitfühlend und lächelte.
    Er machte den letzten Schritt zum Fenster, sah in die Dunkelheit und schob sich dann über die Brüstung. Draußen schlüpfte er in die klobigen Schuhe und lief Richtung Abort. Dort blieb er einen Moment stehen und klopfte prüfend auf seine Jackentasche. Ja, die Briefe waren sicher verstaut. Er vergewisserte sich, dass niemand Streife ging, und huschte in gebückter Haltung zum Stacheldrahtzaun. Erneut lauschte er in die Dunkelheit, um sich schließlich unter dem Drahtverhau durchzuzwängen. Eine Kirchturmuhr schlug zehn.
    Das Lager war nicht besonders gesichert. Von zwei jüngeren Soldaten abgesehen, taten hier nur Invaliden Dienst. Und die verbrachten die Nächte lieber in der wohligen Wärme ihrer Wachstuben, nur selten kam einer von ihnen heraus, um nach dem Rechten zu sehen.
    Es war nicht weit bis zu ihrer Arbeitsstelle, doch er musste sehr vorsichtig sein. Wenn er aufgriffen würde, war es um ihn geschehen. Die Verdunkelung kam ihm zu Hilfe. Keine Lampe brannte. Nur der Mond warf sein fahles Licht.
    Sie versuchten, sich alle zwei Wochen zu sehen. Immer Montagnacht, kurz nach zehn Uhr. Ihre Herrschaft benötigte sie für gewöhnlich um diese Zeit nicht mehr und sie konnte sich heimlich aus dem Haus stehlen. Doch manchmal wartete einer von ihnen vergeblich auf den anderen.
    Nur selten gelang ihnen ein Treffen tagsüber. Wenn sie Besorgungen zu erledigen hatte und er in der Nähe tätig war. Das konnte nur dann gelingen, wenn ein freundlicher Kollege beide Augen zudrückte und ihm diesen kleinen Freiraum verschaffte. Unter den Deutschen waren solche Menschen die Ausnahme. Und natürlich mussten sie derartige Treffen vorher verabreden können.
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