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Ertränkt alle Hunde

Ertränkt alle Hunde

Titel: Ertränkt alle Hunde
Autoren: Thomas Adcock
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hörte ich sie sagen: »Vielleicht wirst du nach dieser Reise mehr wissen. Willst du es wirklich wissen?«
    Wie oft bin ich als kleiner Junge und als Mann nachts aufgestanden in dem festen Glauben, der Geist meines Vaters habe sich auf meiner Bettkante niedergelassen? Wie oft habe ich im Schlaf die Hand nach diesem Geist ausgestreckt, um etwas mehr zu haben als eine einzige Momentaufnahme aus Aidan Hockadays Leben, eingefangen in Licht und Schatten auf einem Stück Fotopapier?
    »Vielleicht brauche ich einen Drink«, sagte ich. Ich gab dem Kellner ein Zeichen.
    »Nur der Ordnung halber: ich mißbillige das«, sagte Ruby.
    Viel später, im Dämmerlicht eines grauenden Samstagmorgens, wurde ich mir des Geistes auf meiner Bettkante bewußt.
    Ich streckte die Hand aus und griff doch nur wie üblich in die Luft. Ich mühte mich ab, Worte zu hören, da ich wußte, der Geist wollte sprechen. Aber nichts. Nur die vertraute Enttäuschung der Schlaflosigkeit.
    Mit einer Ecke des Lakens wischte ich mir den Schweiß von Gesicht und Hals. Dann schlüpfte ich aus dem Bett und ließ Ruby, die im Schlaf leise Geräusche machte, allein.
    Ich nahm das Foto meines Vaters von der Kommode und ging damit ins Wohnzimmer. Ich stellte es oben auf meinen Koffer, der halb gepackt und offen auf der Couch lag. In einer Kanne auf dem Herd in der Kochnische stand noch Kaffee von gestern. Ich machte die Flamme darunter an und ging ins Bad, um mir mit Seife und kaltem Wasser das Gesicht zu waschen.
    Als ich fertig war, schenkte ich mir eine Tasse bitteren, schwarzen Kaffee ein und setzte mich auf die Couch neben das Foto. Nur wir beide, Vater und Sohn. Willst du es wirklich wissen? Wenn dem so war, dann gab es nur noch eine letzte Chance, Antworten auf die Fragen über Aidan Hockaday zu bekommen; sie warteten auf mich auf der anderen Seite.
    Vielleicht würde mir das Foto helfen. Ich fragte es: »Möchtest du mit mir nach Irland kommen?«
    Ich beschloß, daß der Geist antwortete: »Aber sicher, liebend gern begleite ich dich, Junge.« Und so versuchte ich, das Foto zwischen die Kleider in den Koffer zu zwängen; dann kam mir die glänzende Idee, das Gewicht des Gepäcks ein wenig verringern und das Risiko vermeiden zu können, unterwegs das Glas zu zerbrechen, wenn ich das Foto aus dem Rahmen nahm.
    Die Metallbügel auf der Rückseite des Rahmens waren spröde und brachen heraus, als ich sie zurückbog. Dann löste ich den filzüberzogenen Karton und ließ das Foto herausgleiten. Es roch modrig, als sich eine kleine Staubwolke erhob; fast fünf Jahrzehnte Zeit und Schmutz unter Glas.
    Einige Minuten lang hielt ich das Bild meines Vaters, starrte es zum ersten Mal in meinem Leben ohne gläserne Barriere an. Ich ließ meine Fingerspitzen über Aidan Hockadays Gesichtszüge gleiten; ich berührte das Spiegelbild meiner eigenen Nase und Lippen und Kinn.
    Dann legte ich das Foto verkehrt herum zu meinen übrigen Sachen in den Koffer. Und bemerkte die elegante Handschrift.
    Mit blauer Tinte, die all diese Jahre durch das Gefängnis des Bilderrahmens vor dem Verblassen bewahrt worden war, hatte jemand ein Gedicht geschrieben:

»Ertränkt alle Hunde«, sagte die zornige junge Frau.
»Sie haben meine Gans und eine Katze getötet.
Ertränkt, ertränkt sie in der Wassertonne,
Ertränkt alle Hunde«, sagte die zornige junge Frau.

2

    Er saß in seinem Zimmer, auf einem Sessel vor dem Fenster, das auf eine hübsche und friedliche Straße hinausging. Die Mädchen aus dem Haus auf der anderen Straßenseite spielten Seilchenspringen; ein fetter Mann rauchte eine Zigarre und spazierte mit seinem fetten Gegenstück von Hund an der Leine gemächlich vorbei; an der Treppe eines Hauses an der Straßenecke standen kleine Jungs und stritten sich um Murmeln. Durch das junge Frühlingslaub der den Block säumenden Ahornbäume und Platanen fiel das kräftige samstagmorgendliche Sonnenlicht und fleckte den Asphalt.
    Mit einem tiefen Seufzer des erwartungsvollen Bedauerns, das tausend Jahre alt klang, drehte er sich zu einem klingelnden Telefon auf dem Tisch neben sich. Er starrte auf das blinkende Lämpchen des Anrufbeantworters.
    Als das Gerät sich nach dem sechsten Klingeln einschaltete, hörte er seine aufgezeichneten Worte: »Father Timothy Kelly am Apparat... Im Moment bin ich nicht erreichbar... Hinterlassen Sie bitte Namen und Telefonnummer, ich werde so bald wie möglich zurückrufen... Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Tag.«
    Der Apparat klickte einmal, um
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