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Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde

Titel: Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
Autoren: Barbara Erskine
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von todesirren Pferden in ihren roten Leib getrieben werden zitierte er leise.
    »Jon -«
    »Laß ihn.« Gregs Stimme klang höhnisch. »Arme Kate. Du hast eine Rivalin. Siehst du, was sie alles kann? Ihre Macht ist grenzenlos.«
    »Halt den Mund, Greg!« fuhr sie ihn wütend an. »Jon! Jon, was ist los?«
    Jon sah sie an. Sein Blick ging an ihr vorbei; durch sie hindurch. Er sah sie nicht.

LXXV
    Er wußte, daß er im Sterben lag. Von seinem niedrigen Bett aus sah er zu, wie die Diener mit Kohlen für das Kohlenfeuer leise hin und her hasteten. Seine Frau saß an seiner Seite. Ihm war kalt, so furchtbar kalt, obwohl noch Sommer war. Sein Blick wanderte hinüber zu den Schatten. Sie waren da und warteten. Nion und Claudia. Ihr Fluch hatte also doch noch seine Wirkung gehabt. Das Netz war gesponnen. Schon erstreckten sich die klebrigen Fäden, in denen er sich verfangen hatte, bis in die entferntesten Ecken der Zeit. Aber er würde ihr entkommen; irgendwie würde er entkommen œ solange es keinen Beweis für sein Verbrechen gab, würde ihn kein Irdischer verurteilen können, und vor den Göttern würde er es wie ein römischer Krieger darauf ankommen lassen. Er würde durch die Gänge zwischen den Welten wandeln, dort, wo sie ihn nie finden würden.
    Er spürte, wie seine Lungen aussetzten. Der Atem quälte sich durch seine Brust, und ein stechendes Gefühl der Panik lief durch ihn hindurch. Noch nicht. Er war noch nicht bereit. Die Tafeln. Er hatte die Wachstafeln unter seinem Kissen. Der Priester hatte darauf die Worte niedergeschrieben, die ihn beschützen und an Orte führen würden, wo man ihn nie finden würde. Er hatte angeordnet, ohne vorherige Einäscherung bestattet zu werden; das würde seine Seele näher mit der Erde verankern.
    Die Diener waren jetzt gegangen. Das Zimmer war leer. Verschwommen konnte er sehen, daß seine Frau eingenickt war, den Kopf auf den Arm gelegt. Es mußte Mitternacht sein. Die einsamste Zeit. Der einsamste Ort. Durch die Tür, die offen war und die es ermöglichte, daß ein Luftzug das Kohlenfeuer auflodern ließ, konnte er das Wasser des Springbrunnens im Atrium hören. Es hatte etwas von einer angenehmen, wohltuenden Musik; einer Musik, die von den Sternen zurückgeworfen wurde, die er nicht sehen konnte und die dort oben am mitternächtlichen Himmel funkelten. Durch ihn würde er wandern, bevor die Morgendämmerung kam, um seine Herrlichkeit verlöschen zu lassen, verloren in der Unendlichkeit der —Zeit. Er versuchte, seinen Kopf ein wenig zu bewegen, als auf dem Tisch neben ihm die Flamme der Lampe flackerte und verlosch. Plötzlich war das Zimmer erfüllt mit dem Duft von Moschus.
    Als Kate aufwachte, war es draußen stockfinster, aber das Zimmer wurde durch eine kleine Lampe auf der Frisierkommode erleuchtet. Um sich schauend, lag sie da und fragte sich, was sie geweckt hatte. Dann hörte sie es. Es war der Motor eines Autos. Horchend blieb sie liegen und versuchte, genug Kraft zu sammeln, um aufstehen und unten nachsehen zu können, wer es war, aber schon fielen ihr die Augen wieder zu.
    Als sie sie das nächste Mal öffnete, war es heller Tag.
    Das Wohnzimmer unten war leer. Sie sah sich um. Es war aufgeräumt worden. Sie schnupperte. Sie konnte Kaffee riechen. Sie ging hinüber zur Tür der Speisekammer und lugte hinein. Es war Jon, der zwischen Dianas Einmachgläsern und Dosen herumsuchte.
    »Hallo.«
    Er erschrak, dann lächelte er. Er legte seine Arme um sie und küßte sie auf die Stirn. »Hallo. Hast du schlafen können?«
    Sie nickte. »Ich kann‘s nicht recht glauben, aber ja.«
    Er hatte sich gestern, nachdem er eine kleine Ewigkeit dagesessen und das Bild angesehen hatte, in den Sessel am Kamin zurückgezogen und den ganzen Abend lang kaum mehr gesprochen. Das hatte ihr Angst gemacht. Greg war im Gegensatz dazu bemerkenswert fröhlich und zuvorkommend gewesen, und er hatte sie schließlich auch überredet, nach oben zu gehen und ein wenig zu schlafen.
    »Habe ich letzte Nacht ein Auto gehört? Wer war es?« fragte sie.
    Er runzelte die Stirn. »Sie sind gekommen, um Roger abzuholen. Greg hat sich um alles gekümmert.«
    »Armer Roger. Er war so ein netter Mann. Ich habe ihn gern gehabt.« Kate seufzte. »Das war alles so schrecklich, Jon.« Sie suchte wieder seine Arme, und er gab ihr Kraft, als sie bei ihm stand, den Kopf auf seine Schulter gelegt. Er war jetzt wieder er selbst; völlig er selbst. Sie konnte es fühlen, es sehen. Sie blickte über seine
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