Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ersehnt

Ersehnt

Titel: Ersehnt
Autoren: Cate Tiernan
Vom Netzwerk:
die Lachtränen aus den Augen.
    Reyn murmelte etwas und verschwand durch die Küchentür nach draußen in die dunkle, eiskalte Nacht. Ohne Jacke. Nicht, dass mich das interessierte. Kein bisschen.
    »Gott, so habe ich nicht mehr gelacht, seit -« River verstummte, als versuchte sie, sich zu erinnern. Ich nahm an, dass sie dachte, seit Nell (eine andere Schülerin hier) übergeschnappt ist. Sie hatte versucht, mich umzubringen, und musste schließlich mit magischen Beruhigungspillen versehen weggeschafft werden. Jedenfalls vermutete ich das.
    »Ist er okay?«, fragte Brynne und deutete zur Tür. »Haben wir euch bei etwas gestört?« Plötzlich weiteten sich ihre braunen Augen neugierig. In der Nacht, in der Nell ausgeflippt war, hatte sie herumgekreischt, dass sie Reyn und mich dabei erwischt hätte, wie wir uns küssten. Ich hatte gehofft, dass die anderen es als irres Geschwafel einer Bekloppten abtun würden, aber ich hatte seitdem so viele bedeutsame Blicke kassiert, dass ich mir nicht einmal mehr selbst etwas vorlügen konnte.
    »Nein«, antwortete ich mürrisch. Ich schleppte den Jutesack zurück in die Vorratskammer und stellte das Glas ins Regal.
    »Es gibt große Neuigkeiten«, sagte Anne, die anscheinend nicht länger auf der Reyn-Geschichte herumreiten wollte. »Meine Schwester kommt zu Besuch!«
    »Du hast eine Schwester?« Aus irgendeinem Grund verblüffte es mich immer, wenn ich Unsterbliche traf, die Geschwister hatten. Ich meine, natürlich gibt es viele, die welche haben. Aber allgemein dachte ich immer, Unsterbliche wären eher Einzelgänger - nach siebzig, achtzig Jahren hängt doch jedem seine Familie zum Hals raus, auch wenn sie noch so nett ist. Anne sah mit ihrem dunklen Pagenschnitt und den runden blauen Augen aus wie zwanzig, aber ich wusste, dass sie dreihundertvier war. Dreihundert Jahre waren eine lange Zeit, um den Kontakt zur Familie aufrechtzuerhalten. »Mehrere. Und zwei Brüder«, sagte Anne. »Aber Amy istmir altersmäßig am nächsten. Ich habe sie nun schon fast drei Jahre nicht mehr gesehen.«
    Unsterbliche Schwestern, die sich nahestanden. Davon hatte ich noch nicht viele gesehen. Allmählich kam es mir vor, als hätte ich die letzten vierhundert Jahre eine Art Tunnelblick gehabt, ein vielseitiges, aber enges Leben geführt und bewusst entschieden, nicht genau hinzusehen und vieles nicht zu wissen.
    Schließlich gingen Anne und Brynne nach nebenan, um den Tisch fürs Abendessen zu decken. River packte die Einkäufe aus und reichte mir die Sachen, die in den Kühlschrank sollten.
    »Ist alles okay?«, fragte sie.
    »Bedeutet >okay< in diesem Zusammenhang dasselbe wie gequält, verwirrt, schlaflos und voller Angst?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage. »Wenn ja, geht es mir prima.« River lächelte mich an. Sie hat tausend Jahre Zeit gehabt, die Geduld zu entwickeln, die man für Leute wie mich braucht.
    »Bin ich die schlimmste Person, die du jemals hier hattest?« Ich wusste nicht, was mich dazu bewogen hatte, diese Frage zu stellen. Es war nur - in vierhundertfünfzig Jahren kann man viele falsche Entscheidungen treffen. Sehr viele.

    River sah überrascht aus. »Die Schlimmste in welcher Hinsicht?« Dann schüttelte sie den Kopf. »Ist egal. Wie immer du >die Schlimmste< definierst, du bist es nicht. Bei Weitem nicht.«
    Ich konnte mich kaum bezähmen und hätte zu gern gefragt, wer denn die schlimmste Person gewesen war undwieso, aber das würde sie mir ohnehin nicht sagen. Dann wurde mir klar, dass zum Beispiel Reyn viel abscheulicher war als ich, vermutlich sogar schlimmer als jeder andere Unsterbliche, der hier Heilung gesucht hatte. Reyn hatte ganze Dorfbevölkerungen abgeschlachtet, unzählige Leute versklavt, geplündert, geraubt und vergewaltigt. In vieler Hinsicht bin ich zwar der totale Loser, aber zumindest kann mir so was keiner anhängen.
    Und doch war Reyn der, den ich wollte. Mehr als jeden anderen. Wenn es das Karma doch nur besser mit mir gemeint und mich nicht einfach mit einem Tritt in das unendliche Universum der Ironie befördert hätte.
    »Anne hat also eine Schwester?«, fragte ich in dem peinlichen Bemühen, das Thema zu wechseln.
    »Ja. Sie ist sehr nett, du wirst sie mögen.«
    »Ich weiß, wieso ich keine Geschwister habe«, sagte ich und schlug schnell einen Haken um diesen Gedanken, »aber es kommt mir vor, als hätte ich bisher keine Unsterblichen getroffen, die Brüder oder
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher