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Ersehnt

Ersehnt

Titel: Ersehnt
Autoren: Cate Tiernan
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wieder hier zu sein. Aber es ist schwer.« Ich strich mir die Haare hinters Ohr. »Es ist schwer, ich zu sein. Schätze ich. Ich weiß, das überrascht dich vermutlich.« Reyn nickte - er versuchte es nicht einmal abzustreiten - und dann sagte er: »Ich zu sein, ist auch nicht gerade ein Zuckerschlecken.«
    Das war Nummer 6237 der Dinge, auf die ich nie im Leben gekommen wäre. »Oh, Nein, wohl nicht.« Ich hatte nie darüber nachgedacht, wie er mit sich selbst und seiner Vergangenheit lebte. Ich vermutete, dass so was passiert, wenn man sich nur um sich selbst kümmert. Aber ja, es musste auch für ihn echt hart sein. Oder - ganz neuer Gedanke - vermutlich machte jeder in seinem Leben schwere Zeiten durch und zweifelte immer mal wieder an sich. Ich hatte mehr als vierhundert Jahre lang über die Qualen des Unsterblichseins gejammert,ohne zu erkennen, dass das Leben ein Miststück sein konnte, ob man nun unsterblich war oder nicht.
    Das war ein umwerfender Durchbruch, über den ich später ausführlicher nachdenken musste. Aber jetzt hatte ich erst mal Fragen.
    »Woher wusstet ihr, River und du, wo ich war?«
    Reyn öffnete die Tür zu einer leeren Box, in der ein paar Heuballen lagen. Das Heu erinnerte mich an die Nacht, in der wir uns oben auf dem Heuboden zum ersten Mal geküsst hatten. Die Nacht, in der wir erkannt hatten, wer der andere war. Das schien ein Jahrzehnt her zu sein. Reyn breitete seinen Stallkittel aus und setzte sich auf den Boden. Um größer zu sein als er, ließ ich mich auf einem der Ballen nieder. EinSpätnachmittags-Sonnenstrahl fiel durchs Fenster auf ihn, ließ seine Wangenknochen plastischer hervortreten und die helleren Strähnen in seinen Haaren aufleuchten. Er sah müde aus. Immer noch wie ein gut aussehender Zwanzigjähriger, vielleicht auch zweiundzwanzig, aber müde.
    »Wir haben nach dir gesucht«, sagte er. »In der Nacht, in der du weggegangen bist. Und wir spürten, dass etwas nicht stimmte, als wärst du in der Nähe und trotzdem für uns nicht auffindbar.«

    »So weit weg war ich gar nicht. Vielleicht hat Incy mich mit einem Zauber verborgen.« Es fiel mir schwer, seinen Namen auszusprechen.
    Reyn nickte und beim Gedanken an Incy biss er so wütend die Zähne zusammen, dass sich sein Kiefer verkrampfte. »Das vermute ich. Jedenfalls warst du verschwunden und nach einer Weile konnten wir dich nicht mehr spüren. River und die anderen, Anne und Solis und Asher, haben Suchzauber benutzt, um dich zu finden. Aber ohne Erfolg.« Reyn atmete hörbar aus. Wieder tat es mir leid, was ich ihnen allen zugemutet hatte.
    »Wir haben es jeden Tag aufs Neue versucht. River hat Kontakt zu allen Leuten aufgenommen, die sie kennt, aber niemand hatte dich gesehen oder etwas gehört. Aber dann hat ein Freund von River angerufen. Er hatte Innocencio in Boston gesehen. River war ihm einmal begegnet, also wusste sie, dass die Beschreibung auf ihn passen könnte«, erklärte Reyn. Incy war 1929 in dieser Nacht in Frankreich, als ich River zum ersten Mal getroffen hatte, bei mir gewesen. »Wir gingen davon aus, dass du bei ihm warst.« Reyn hatte immer abwesender geklungen und jetzt sah er mich kühl und abschätzend an. »Ist er dein Liebhaber?«
    »Incy? Nein«, sagte ich kopfschüttelnd. »Gott, nein. Nie im Leben.«
    »Ist er schwul?« Reyns Blick war so direkt und er sah einfach ... ich weiß nicht ... schön aus. Für mich sah er aus wie zu Hause. Wie die Nachbarn und Freunde, die ich vor so langer Zeit gehabt hatte. Ich musste daran denken, wie er den Wald abgesucht hatte, in der Nacht, in der ich verschwunden war, und wie er nach Boston gekommen war, um mich zu finden.
    »Eigentlich nicht«, sagte ich. »Er ... spielt in beiden Mannschaften. Aber zwischen uns war nie etwas.« Das war ein typischer Fall von »Glück gehabt« oder »Ausnahmsweise mal richtig entschieden«.
    »Dann wart ihr nur Freunde.«
    »Ja. Gute Freunde. Beste Freunde.« Ich seufzte, fühlte mich plötzlich sehr alt und stützte den Kopf in eine Hand.
    »Auf jeden Fall sind wir dann nach Boston gefahren«, fuhr Reyn fort. »Auf dem Weg dorthin - es war bereits Nacht - haben wir dich plötzlich gespürt, sehr lebendig. Einfach eine ... große Emotion. River konnte ihr folgen.«
    Das war wahrscheinlich in Miss Ednas Bar gewesen oder kurz danach, als ich mit Incy im Wagen gestritten hatte. »Dann hast du dich auf einmal tot angefühlt.« Reyn schluckte und zupfte
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