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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
Autoren: Lionel Shriver
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Kapitel 1
Shepherd Armstrong Knacker
Merrill Lynch Konto-Nr. 934 – 23F917
01. 12. 2004 – 31. 12. 2004
Gesamtnettowert des Portfolios: $ 731 778,56
    WAS PACKT MAN ein für den Rest seines Lebens?
    Auf ihren Recherchereisen – »Urlaub« hatten er und Glynis dazu nie gesagt – hatte Shep immer zu viel eingepackt, um für jede Eventualität gewappnet zu sein: Regenzeug, einen Pullover für den Fall, dass das Wetter in Puerto Escondido für die Jahreszeit ungewöhnlich kalt sein sollte. Angesichts der nun unendlichen Eventualitäten war sein erster Impuls, überhaupt nichts mitzunehmen.
    Es gab keinen vernünftigen Grund, heimlich von einem Zimmer ins andere zu schleichen wie ein Dieb, der sein eigenes Haus ausrauben wollte – auf leisen Sohlen über die Dielen zu tappen, bei jedem Knarren zusammenzuzucken. Er hatte sich vergewissert, dass Glynis am frühen Abend nicht zu Hause sein würde (wegen eines »Termins«; dass sie nicht erzählt hatte, mit wem oder wo, beunruhigte ihn). Er hatte sich bestätigen lassen, dass Zach bei einem Freund übernachtete; er hatte seinen Sohn unter dem schwachen Vorwand angerufen, sich nach dessen Plänen fürs Abendessen erkundigen zu wollen, obwohl Zach im vergangenen Jahr kein einziges Mal mit seinen Eltern gegessen hatte. Shep war allein im Haus. Er musste nicht jedes Mal aufschrecken, wenn die Heizung ansprang. Er musste nicht zitternd in der obersten Kommodenschublade nach seinen Boxershorts greifen, als würde man ihn im nächsten Moment am Handgelenk packen und ihm seine Rechte vorlesen.
    Nur, dass Shep in gewisser Hinsicht tatsächlich ein Einbrecher war. Vielleicht sogar von der Sorte, wie sie jeder amerikanische Haushalt am meisten fürchtete. Er war etwas früher von der Arbeit nach Hause gekommen, um sich selbst zu stehlen.
    Die Innentasche seines großen schwarzen Samsonite-Koffers lag mit offenem Reißverschluss auf dem Bett, so wie sie das auch bei den alljährlichen weniger dramatischen Abreisen getan hatte. Bislang bestand der Inhalt aus: einem Kamm.
    Er zwang sich dazu, ein Reiseshampoo und sein Rasierset einzusammeln, wobei er bezweifelte, dass er sich im Jenseits noch rasieren würde. Mit der elektrischen Zahnbürste wurde es schon wieder schwierig. Es gab Strom auf der Insel, ganz bestimmt, aber er hatte herauszufinden versäumt, ob es die Stecker mit den zwei flachen amerikanischen Kontaktstiften waren, die klobigen britischen Dreierstifte oder aber die schlanke europäische Variante mit den weit auseinanderstehenden runden Stiften. Er hätte nicht mal genau sagen können, ob die Stromspannung 220 oder 110 Volt betrug. Schlamperei; genau diese praktischen Details hatten sie sich auf früheren Rechercheexpeditionen immer akribisch aufgeschrieben. Aber in letzter Zeit waren sie überhaupt weniger systematisch gewesen, vor allem Glynis, die auf jüngeren Auslandsreisen nachlässig geworden war und das Wort »Urlaub« verwendet hatte. Es hätte ihm zu denken geben sollen, und nicht nur das.
    Während ihm das misstönende Surren der Oral B im Kopf anfangs noch unangenehm gewesen war, hatte Shep irgendwann nach überstandener Mühe Geschmack an der Glattheit seiner Zähne gefunden. Wie bei jedem technologischen Fortschritt fühlte sich die Rückkehr zum alten Hin und Her der Handzahnbürste unnatürlich an. Aber was, wenn Glynis nach Hause kam, ins Badezimmer ging und feststellte, dass sein blau geringelter Aufsatz fehlte, während ihr rot geringelter noch immer neben dem Waschbecken stand? Es wäre besser, er würde nicht ausgerechnet an diesem Abend ihr Misstrauen wecken. Er hätte problemlos den Aufsatz von Zach nehmen können – er hatte den Jungen das Gerät noch nie benutzen hören –, aber dem eigenen Sohn die Zahnbürste zu entwenden brachte Shep nicht über sich. (Natürlich hatte Shep das Ding mit seinem Geld bezahlt, wie fast alles hier. Und doch fühlte sich nichts in diesem Haus an, als gehörte es ihm. Früher hatte ihn das gestört, aber umso leichter fiel es ihm jetzt, die Salatschleuder, den Heimtrainer und die Sofas zurückzulassen.) Schlimmer noch, er und Glynis benutzten dasselbe Aufladegerät. Er wollte sie nicht mit einer Zahnbürste zurücklassen, die fünf oder sechs Tage lief (er wollte sie überhaupt nicht zurücklassen, aber das war wieder eine andere Geschichte) und seiner Frau den langsam verklingenden Soundtrack zu ihrer neuesten Depression lieferte.
    Nachdem er also mit wenigen Drehungen angefangen hatte, die
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