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Ersehnt

Ersehnt

Titel: Ersehnt
Autoren: Cate Tiernan
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harte, warme Hand hielt mich auf. »Die meisten von uns wollen so etwas nicht haben«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Wir wollen keine Liebhaber, Kinder, Pferde haben. Kein Heim. Weil wir schon so viele verloren haben. Aber das alles aufzugeben bedeutet, dass die Zeit gewonnen hat - dass die Zeit dich geschlagen hat. Ich denke ... ich könnte jetzt bereit sein, den Kampf gegen die Zeit wieder aufzunehmen. Vielleicht bin ich jetztstark genug, um eine Chance zu haben.«
    Reyn war normalerweise eher der schweigsame Typ. Aber das war fast ein Roman gewesen. Und es hatte viel über ihn verraten. Hatte er getrunken? Ich konnte keines der verräterischen Anzeichen dafür erkennen.
    Mein Gehirn verarbeitete hastig, was er gesagt hatte, und wich elegant allen potenziell verfänglichen Bedeutungen seiner Worte aus. Ich hatte Panik vor dem, was er als Nächstes sagen würde.
    »Dann ... willst du dir also einen Hund anschaffen?«, fragte ich und entschied mich damit für die am wenigstengruselige Option.
    Er sah müde aus. Ihm in die Augen zu sehen, tat schon fast weh, aber ich würde ganz sicher nicht zuerst blinzeln. Er hob die Hand und ich schaffte es, nicht zurückzuzucken. Mit dem Finger strich er mir von der Schläfe bis zum Kinn, fast so, wie River den mickrigen Welpen gestreichelt hatte. »Gute Nacht«, sagte er.

3
    Die Einwohner im Örtchen West Lowing (5031 Einwohner, um genau zu sein) glauben, dass River's Edge eine kleine familienbetriebene Biofarm ist. Was in gewisser Weise sogar stimmt. Die Tatsache, dass wir alle unsterblich sind und die meisten von uns daran arbeiten, über unser bedeutungsloses Leben in dunkler Endlosigkeit oder endloser Dunkelheit hinwegzukommen, ist etwas, das wir natürlich nicht überall rumtratschen. Das geht niemanden etwas an. Und wenn zufällig jemand vorbeikommt, sieht er nur ganz normal wirkende Leute im Garten arbeiten, Felder umpflügen, Hühner füttern, Holz hacken und Ställe ausmisten.
    Man sollte meinen, dass diese wundervollen Outdoor-Aktivitäten für genügend Beschäftigung sorgen, aber einige von uns (vor allem ich) hatten außerdem die Auflage bekommen, einen Job in der wirklichen Welt anzunehmen. Asher hatte mir den Grund dafür erklärt, aber ehrlich gesagt war mein Gehirn nach den Worten »Job« und »Mindestlohn« nicht besonders aufnahmefähig. Und als er dann noch so Sachen vorschlug, wie in der örtlichen Leihbücherei Bücher in die Regale zu stellen, hatte ich innerlich angefangen zu schreien.
    Doch zur allgemeinen Überraschung arbeitete ich nun schon seit sechs Wochen bei Maclntyre's Drugs an der Main Street von West Lowing. Der »Innenstadtbereich« der Main Street erstreckte sich über vier Blocks und bestand aus fünf leerstehenden Läden, einer geschlossenen Tankstelle, einem Futtermittelhandel, einem Lebensmittelladen, einer Imbissbude, einem Hotdog-Restaurant (da gab es tatsächlich nichts anderes) und dann noch der West-Lowing-Version von internationaler Küche in Form eines Restaurants mit chinesischen und arabischen Gerichten.
    Also ... in einem angesagten Shop in Manhattan Regale aufzufüllen, wäre schon schlimm genug. Aber ich füllte Regale in MacIntyre's Drugstore im gottverlassenen West Lowing, Massachusetts, auf. Und damit nicht genug: Mein Boss war ein verbitterter alter Knacker. Er hasste mich und schrie pausenlos meine Kollegin - seine Tochter - an. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, wie er zu Hause mit ihr umsprang. Aber das alles gehörte zu meiner Therapie: zu lernen, mit  anderen auszukommen und zusammenzuarbeiten.
    Als ich eine Minute vor Schichtbeginn die Ladentür aufstieß, putzte Meriwether MacIntyre bereits den Verkaufstresen mit einem Spray und einem Lappen.
    »Hast du noch Weihnachtsferien?«, fragte ich und ging an ihr vorbei, um meine Jacke aufzuhängen.
    »Ja. Noch zwei Tage«, sagte sie. Meriwether besuchte die Abschlussklasse der einzigen Highschool im Ort. Sie überragte mich um fast zehn Zentimeter und war eine der farblosesten Personen, die ich je getroffen hatte. Ihre Haare, die Haut und die Augen hatten im Grunde dieselbe aschbraune Farbe und sie hatte die Ausstrahlung eines misshandelten Kaninchens. Daran war garantiert ihr grässlicher Vater schuld.
    Old Mac, wie ich ihn nannte, sah mich hasserfüllt an als ich zur Stechuhr schlenderte und fünfzehn Sekunden vor Beginn meiner Schicht die Karte stempelte. Ich schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und ging nach vorn, wo
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