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ErosÄrger

ErosÄrger

Titel: ErosÄrger
Autoren: Jennifer Schreiner
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laufen. Mit einer bösen Vorahnung im Herzen öffnete ich meine Augen und starrte wieder aus dem Fenster, in die Ferne und dem letzten Einsatzfahrzeug entgegen, dessen lautes Martinshorn näherkam. Es leuchtete im unheimlichen Rot der Vollstrecker und ließ meine Ahnung zur Gewissheit werden. Obwohl sie nicht wegen mir im Einsatz waren, zitterten meine Beine, als ich mich wieder meinen Freunden zuwandte.
    »Ich will nicht ohne Mina weiterleben«, erklärte Lukas und deutete auf die Blutspritzer. »Außerdem bin ich sowieso so gut wie tot.«
    Ich nickte. Nicht, weil ich einverstanden war, einen Mord durchzuführen, sondern weil ich die Aussage für wahr hielt. Nichtsdestotrotz nahm ich den Brief, den Lukas mir entgegen hielt und las ihn. Er war vom Rat ausgefüllt und unterschrieben. Ein Ablass für mich und Lukas, die Genehmigung zum Freitod.
    Mein Blick glitt zwischen den Liebenden und dem Geschriebenen hin und her. Unbewusst zerknüllte ich dabei das Papier in meiner Hand in demselben Maß, wie der Kloß in meinem Hals wuchs. Dabei konnte ich es den beiden nicht einmal verübeln, dass sie mich um diesen Gefallen baten. Wieder tief und bewusst atmend, dachte ich an das glückliche Paar und daran, dass die zwei eine schöne Zeit miteinander gehabt hatten. Fünfzehn Jahre lang. Dreiviertel der Länge meines eigenen Lebens. Sie waren Freunde, die ersten Lebewesen, die ich miteinander vermittelt hatte.
Für die Ewigkeit oder bis das der Tod sie scheidet
.
    Mit nur einem Problem: Sie wollten nicht geschieden werden.
    Ich betrachtete die klare Flüssigkeit in der Spritze. Trotz aller rationalen Erklärungen und allem logischen Abwägungen überwogen Trauer und Verneinung.
    »Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?« Lukas klang hoffnungsvoll, doch ich erstarrte innerlich. Obwohl ich mit ganzer Kraft versuchte, die Erinnerungen zurückzuhalten, musste ich an meine Mutter denken. An die verzweifelten Schreie, das Feuer, die vernichtete, vernichtende Liebe. Bevor ich es verhindern konnte, hatte ich ausgesprochen, was ich dachte: »Ich glaube nicht einmal an ein Leben vor dem Tod.«
    Lukas reichte mir wieder seine Hand. »Irgendwann wirst auch du die Liebe deines Lebens finden.«
    »Lieber nicht.« Ich schenkte ihm ein trauriges Lächeln. »Es wäre mein Todesurteil – oder seines.«
    Lukas nickte betrübt und strich zärtlich über meine Finger. »Manchmal ist es das wert.«
    Ich schnaubte nur leise, und nahm die Spritze vom Nachttisch, um das Thema zu wechseln. »Wie lange?«
    »Etwa fünf Minuten.« Lukas hob seinen Arm, wo schon ein periphervenöser Katheter befestigt war. Ich bemerkte ihn erst jetzt, verzichtete aber auf die Frage, ob Lukas sich die Spritze nicht doch selbst gegeben konnte. Manchmal musste man für seine Freunde da sein und das Richtige tun, auch wenn es sich verdammt falsch anfühlte. Konzentriert brachte ich meine zittrigen Händen unter Kontrolle, verabreichte ihm das Medikament und gab mir dabei große Mühe die Situation nicht noch schlimmer zu machen, indem ich ihn meine Gewissensbisse – hätte ich damals nicht einen Menschen und ein unsterbliches Wesen miteinander verkuppelt, wäre es nie soweit gekommen – anmerken ließ.
    Ich ignorierte das Rufen und die gebrüllten Befehle der Einsatzkräfte, die inzwischen vor und im Krankenhaus zugange waren und setzte mich so auf die Bettkante, dass ich Mina und Lukas betrachten konnte, ohne beim Abschied zu stören. Aber es gab nicht mehr viel zu stören, ich konnte nur hilflos zuschauen, wie Mina starb, ohne noch einmal das Bewusstsein wiederzuerlangen. Der Tod ging von ihrem Herzen aus. Die linke Hand, auf die ich meine gelegt hatte, wurde noch kälter, die Adern traten deutlich hervor, rot und bläulich, ich konnte spüren, wie sich das Erlahmen allen Lebens durch den restlichen Körper der ehemals Unsterblichen zog, langsam, bis zu ihrem rechten Arm. Es zog sich von der Schulter nach unten, in die Fingerspitzen, stahl sich unter Lukas Hand. In einem Moment war die Seele noch da, dann war sie weg.
    »Hast du es auch gespürt?« Lukas strahlte mich trotz der Schmerzen, die seinen Körper beugten, an, und klang triumphierend: »Walküren haben doch eine Seele!«
    Er schaute andächtig zur Decke, als könne er immer noch einen Hauch des entfleuchten göttlichen Glanzes erkennen. Mein Nicken sah er schon nicht mehr, da er plötzlich und tot in sich zusammensackte. Der neuerliche kalte Windhauch, der mich streifte, riss mich aus meiner Andacht, konnte von
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