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Erloschen

Erloschen

Titel: Erloschen
Autoren: Alex Kava
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Manchmal setzte er sich auch in die Bücherei und las. Bücher ausleihen konnte er nicht, denn wo hätte er die aufbewahren sollen? Und was war, wenn er sie nicht rechtzeitig zurückbrachte? In seinem neuen Leben wollte er nicht mal dieses bisschen Verantwortung übernehmen. Verantwortung war der Fallstrick, der ihn überhaupt erst auf die Straße gebracht hatte.
    Also ließ er seinen kostbaren Besitz einmal in der Woche hier zurück – den Karton und ein paar Decken, die jemand versehentlich in einen Müllcontainer geworfen hatte. Die anderen paar Sachen, die ihm noch geblieben waren, trug er in einem schmutzigen roten Rucksack mit sich herum. Wollte er die fünf Meilen in die Stadt nicht zu Fuß gehen, musste er früh aufstehen und den Obdach losenbus nehmen. Das hatte er heute Morgen getan. Leider hatte er den letzten Abendbus verpasst. Er achtete schon lange nicht mehr darauf, wie spät es war.
    Was spielte es auch für eine Rolle? Schließlich hatte er keine Sitzungen oder Termine mehr. Er trug ja nicht mal eine Uhr. Seine goldene Rolex hatte er als Erstes verpfändet. Heute aber hatte Cornell Glück gehabt. Genau genommen war es ihm direkt vor die Füße gestolpert, als ihn eine schwarze Limousine fast umfuhr.
    Der Wagen hatte einen feinen Pinkel und seine Frau abgeholt. Sicher wollten sie ins Kennedy Center oder auf eine Cocktailparty. Die Frau hatte angefangen, sich bei ihm zu entschuldigen, und dann ihrem Alten den Ellbogen in die Rippen gerammt, bis der seine Brieftasche zückte. Cornell guckte gar nicht richtig hin, son dern fragte sich, wie all diese umwerfenden jungen Frauen bei solchen alten Knackern endeten.
    Ach was, eigentlich wusste er es ja.
    Vor wenigen Jahren wäre er eine ernst zu nehmende Konkurrenz für diesen Idioten gewesen. Heute war er eine Stadtplage, mit der man Mitleid hatte. Gleichwohl war Cornell sicher, dass die Frau seinen unwiderstehlichen Charme bemerkt hatte. Klar, und wie elegant er sich zwischen Bordstein und Stoßstange aufgerappelt hatte! Wenigstens hatte er sich nicht in die Hose ge macht. Er spürte immer noch die Hitze des Motors.
    Aber die Frau, o ja, die war wirklich nicht zu verachten gewesen. Und sie hatte ihm in die Augen gesehen. Da war ein Anflug von einem Lächeln und sogar eine leichte Röte gewesen, als Cornell sich demonstrativ die Lippen leckte, während ihr Begleiter gerade nicht hinsah. Der Glatzkopf hatte in seiner Brieftasche gewühlt. Gewiss ärgerte er sich, dass er nur Fünfziger dabeihatte.
    Für Cornell schrien dieses Lächeln und das Erröten geradezu danach, dass sie ihm an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit gerne mehr als nur die Kohle ihres Freundes gegeben hätte. Und dieser heimliche Blickwechsel tat ihm gut, gab ihm etwas von dem zurück, was er verloren hatte. Wie sehr es ihm fehlte, merkte er nur in solchen Momenten, wenn ihn eine umwerfende Frau wie diese daran erinnerte, wer er einmal gewesen war. Und auch daran, dass er heute kaum mehr als Abfall war, den man in den Rinnstein trat oder schubste. Beinahe hasste er sie dafür. Aber den Fünfziger wusste er sehr zu schätzen.
    So viel Geld hatte er den ganzen Monat noch nicht gesehen. Und wie um ihr und sich selbst zu beweisen, dass sich unter dem Schmutz und den Schweißflecken immer noch ein charmanter, witziger und kluger Mann verbarg, wechselte Cornell den Schein in einem Eckbistro. Er setzte sich sogar an den Tresen und bestellte Suppe und Käsetoast. Als er zahlte, bat er die Kellnerin, ihm in Ein-Dollar-Scheinen rauszugeben. Die Frau zuckte richtig zusammen, drehte den Schein hin und her und beäugte misstrauisch abwechselnd ihn und das Geld.
    Cornell hatte nur gelächelt, als sie ihm endlich sein Wechselgeld rausgab. Er faltete die Scheine zusammen und verstaute sie sorgsam in der Seitentasche seiner fadenscheinigen Cargohose, die glücklicherweise noch einen Knopf hatte. Dort war sein neuer Besitz sicher. Sein Essen kam – dampfende Suppe und geschmolzener Käse auf weißem Porzellan –, und Cornell war einen Mo ment wie gelähmt, starrte es nur an. So etwas Schönes hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Auf dem Teller lagen ein kleines Päckchen mit Kräckern und eine Essiggurke; vor allem aber war das Besteck in eine weiße Serviette gewickelt. Eine Stoffserviette! Es schien ihm derart unwirklich, dass Cornell zunächst nicht mehr genau wusste, was man mit richtigem Besteck anfing. Er hatte sich schon zu sehr an das Plastikzeug gewöhnt, das man in der Suppenküche
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