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Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück

Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück

Titel: Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück
Autoren: Tilman Röhrig
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kein Gedanke mehr hinausdringen.
    Jetzt wagten sie sich vor den Toten. Nur schnell. Sie stopften ihm einen Wollfetzen in den Mund, verschlossen mit Pfropfen seine Nasen- und Ohrlöcher. Durch keine Öffnung durfte der nie sterbende Geist aus der schützenden Hülle des Körpers entweichen, um dann befreit ein Eigenleben zu führen und womöglich furchtbare Untaten zu begehen. Erst als auch das Afterloch Thorvalds versiegelt war, traten sie zurück.
    »Warum muss er so hinüberziehen? Als ein Strohtoter«, murmelte Erik und schlug die Fäuste gegeneinander. »Vater war ein tapferer Wikinger. Gerade er hätte seinen Platz in Walhall verdient …«
    »Nicht jetzt, später«, unterbrach ihn Tyrkir und mahnte zur Eile. Die Mägde wurden hereingerufen, unter seiner strengen Aufsicht schnitten sie dem Leichnam Fuß- und Fingernägel aus dem Hautbett. Er selbst warf jedes Stück in die Glut, nichts durfte davon übrig bleiben, und bald mischte sich Gestank nach schmelzendem Horn in den Rauch des Holzfeuers.
    Erik befahl die Knechte zu sich. Beim Schein der Tranlampen ließ er hinter dem Hochsitz die Tische, Bänke und Kästen zur Seite räumen, schritt in gerader Linie bis zur Außenwand und bezeichnete dort ein großes Viereck. »Fangt an!«
    Zunächst entfernten die Männer Gras und Erde aus den Fugen, lösten behutsam Stein um Stein, dann stießen zwei von ihnen ihre Spaten durch das klaffende Mauerloch in die Schutzschicht, während die anderen das Haus verließen und ihnen von draußen auf Zuruf entgegenarbeiteten. Immer wieder stürzte Erde nach, keine Höhle mehr, nur mit Mühe gelang es, den Stichgang zur Wandöffnung so schmal wie möglich zu halten.
    »Das wird genügen.« Der Zwanzigjährige hob den Vater aus dem Hochsitz. Tyrkir fasste die Füße und ging voran, so trugen sie den Toten durch die Öffnung ins Freie. Einen guten Steinwurf entfernt legten sie ihn auf einer Klippe nieder. »Es ist weit genug.«
    Tyrkir verschränkte die Arme. Hinter ihnen begannen die Knechte im Innern sofort wieder das Mauerwerk zu schichten, die Bresche zu schließen, und ohne Pause würden sie die mannsdicke Schutzschicht auffüllen. »Wir wachen bei ihm, bis der Herr den Weg zurück ins Haus nicht mehr finden kann.«
    Die Freunde starrten hinunter zum Schiff am Strand, hinaus aufs unruhige Meer und weiter bis zum Horizont. Auch wenn der Tag sich bald neigte, jetzt im Juli versank die Sonne zwar wieder, ihr fahles Licht aber würde die Nacht erhellen und entlang des Nordens zum Osten wandern, um dann erneut hinter dem Rand der Welt aufzusteigen.
    »Ich trauere für ihn. Hätte er nur früh genug von seinem Ende gewusst, er hätte mich gebeten. Ich weiß es.« Tränen sickerten Erik in den roten Bart. »Ein kurzer Messerstich von mir hätte ihm zum Glück verholfen … So aber muss er ins Totenreich der Hel ziehen.«
    Tyrkir verstand den Kummer. Was bedeutete das düstere Jenseitsreich unter der Erde, verglichen mit den Freuden und Gelagen der Götterwelt? Dort oben in Asgard ritten Morgen für Morgen die ehrenvoll aufgenommenen Wikinger zum Kampfplatz, traten mit Äxten und Schwertern gegeneinander an. Eisenfunken sprühten, das Blut floss in Strömen und nach dem Streiten schlössen sich wieder alle Wunden. Gemeinsam kehrten sie in die von goldenen Schilden überdachte Walhall zurück und speisten mit den Göttern. Täglich feiern sie dort oben rauschende Gelage, dachte Tyrkir, nie wird der Schöpfeimer mit süßem Met leer, nie gehen Speck und Fleisch des gesottenen Ebers aus.
    Weil aber Thorvald nicht wie ein tapferer Krieger gefallen war oder selbst den Zeitpunkt des Todes bestimmt, sondern hier alle Lebenskraft verbraucht hatte, musste er durch Kälte und Dunkelheit ins Reich der Göttin Hel wandern. Sein Weg führte an wildreißenden Flüssen entlang, bis er den goldenen Steg, der sich über eine der zerklüfteten Schluchten spannte, endlich erreichte. Über ihn gelangte er zur Halle der Strohtoten.
    Dort thronte Hel inmitten der Schattenwesen und bot einen Anblick des Grauens: Leib und Gesicht der unerbittlichen Göttin waren halb schwarz und halb blau, allein ihre Augen glühten. Sie würde Thorvald seinen Platz in der schweigenden Schar anweisen. Und dann gab es nichts mehr für ihn, nicht die kleinste Abwechslung, nur Langeweile bis ans Ende aller Zeiten.
    »Der Herr war stets gut zu mir.« Tyrkir las einen Kiesel auf und drehte ihn in der Hand. »Damals, als er die Mutter und mich kaufte, da hatte ich große Angst vor
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