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Erdbeerkönigin

Erdbeerkönigin

Titel: Erdbeerkönigin
Autoren: Silke Schütze
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wenige nehmen meine Turnschuhe mit befremdeten Blicken zur Kenntnis.
    Hubertus zieht mich zur Seite. »Meine Rückendeckung hast du, auch wenn es sich um einen Straftatbestand handelt.«
    Ich nicke und versuche meine aufsteigende Nervosität zu ignorieren. Was, wenn der Plan schiefgeht? Wenn ich stolpere, nicht vom Fleck komme und sofort erwischt werde? Ob ich dafür ins Gefängnis wandere? Entschieden schalte ich diese Überlegung aus meinem Denken aus. »Wo ist die Urne?«, frage ich heiser.
    »Der Bestatter wird sie gleich in die Kapelle bringen«, antwortet Hubertus und zeigt auf einen dunklen Wagen, der soeben auf den Weg vor der Kapelle einbiegt.
    Ich gebe Nick ein Zeichen, und er bewegt sich unauffällig wieder Richtung Wagen, als hätte er dort etwas vergessen. Stani folgt ihm.
    Aus dem dunklen Wagen steigt ein Mann in schwarzem Anzug, er hält eine Urne in den Händen.
    Einer Eingebung folgend, schnappe ich mir den Strauß dunkler Rosen, den Hubertus in den Händen hält, und hefte mich an die Fersen des Bestatters. Als er die Urne in der Kapelle gerade auf ein vorbereitetes Podest stellen will, halte ich ihm mit einer Hand die Rosen entgegen. Reflexartig versucht er den Strauß zu nehmen, wobei ihm die Urne fast aus den Händen gleitet. Ich gebe vor, helfen zu wollen – und halte das Gefäß in meinen Händen.
    Und dann renne ich los. Das Letzte, was ich bewusst wahrnehme, ist das überraschte, entsetzte Gesicht des Bestatters. Ich schlängele mich wie bei einem Slalom durch die erstaunten Trauergäste und springe über eine kleine Hecke. Wo ist Nick? Wo ist das Auto? Gehetzt blicke ich mich um. Hinter mir sind Rufe zu hören. Der Bestatter taucht mit hochrotem Kopf vor der Kapelle auf. Als er mich sieht, nimmt er meine Verfolgung auf.
    Da! Unser Wagen schießt mit quietschenden Reifen hinter einem Baum hervor. Stani öffnet von hinten die Tür. Ich werfe mich auf den Sitz, ziehe die Tür zu, und wir rasen davon.
    An der nächsten Ecke kommt uns ein Polizeiwagen entgegen. Nick drosselt sofort die Fahrt.
    »Bist du verrückt? Fahr schneller!«, schreie ich.
    Aber Nick ist die Ruhe selbst. »Der weiß doch nicht, dass wir auf der Flucht sind. Wir wollen schließlich nicht angehalten werden.«
    Tatsächlich biegt der Polizeiwagen hinter uns ab.
    Nick legt einen höheren Gang ein, und wir verlassen den Friedhof auf dem schnellsten Weg. Draußen schluckt uns der Stadtverkehr. Wir werden nicht verfolgt.
    Jetzt erst wird mir klar, was ich getan habe. Ich betrachte die schmucklose Urne, die ich wie ein Kleinkind im Arm halte.
    Mehr bleibt also nicht übrig von einem Menschen aus Fleisch und Blut, von seinen Träumen und Tränen. Aber merkwürdigerweise erschreckt mich das nicht. Während ich mit Nick und Stani Richtung Elbe fahre, überkommt mich ein wundersamer Frieden.
    Wir begeben uns mit Daniel an den Ort, der ihm so am Herzen lag. Ich erfülle ihm seinen letzten Wunsch. An einer Ampel steht eine Frau mit einem roten Fahrrad neben uns. Bestimmt will sie an die Elbe, denke ich. Die Frau hat ein blaues Kleid an, dessen Rock sich im Fahrtwind bläht, als sie weiterfährt.
    Ich sehe ihr lächelnd nach, weil es so ein fröhlicher, schöner Anblick ist und mir klarwird, dass das, was wir gleich tun werden, auf eine gewisse Weise genauso fröhlich und schön ist. Nick wirft mir einen Blick zu. Auch er lächelt.
     
    Schließlich stehen wir drei am Elbstrand. Nick trägt die Urne, Stani sein Akkordeon und ich den Erdbeertopf. Der Himmel ist fast klar, weiße Schäfchenwolken riffeln das diesige Blau, die Sonne steht hoch, ein leichter Wind weht. Doch dunkle Wolken am Horizont stören den sommerlichen Eindruck.
    »Hier?«, fragt Stani und wuchtet seinen Koffer auf einen Stein im Sand. Ich stimme ihm zu.
    Einen Moment lang stehen wir da und schauen auf das Wasser. Ein großes Containerschiff schiebt sich Richtung Hafen. Durch die Bugwelle brechen sich größere Wogen am Strand. Der Himmel verdunkelt sich von der Hafenseite.
    »Jetzt bekommen wir doch noch ein Gewitter«, sagt Nick. In der Ferne ist bereits ein Grummeln zu hören. Der Wind frischt auf.
    Nick schaut mich an. »Bist du bereit?«
    Ich nicke.
    Nick erbricht die Plombe an der Urne. Hinter uns beginnt Stanislaw zu spielen – den Walzer aus dem »Paten«, zu dem Daniel und ich damals getanzt haben. Ein zweites Bild überlagert diese Erinnerung: Hubertus und ich stehen unter dem regenschweren Himmel über dem Ohlsdorfer Friedhof. Hubertus fragt mich, ob ich
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