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Erdbeerkönigin

Erdbeerkönigin

Titel: Erdbeerkönigin
Autoren: Silke Schütze
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hatte er »meine Erdbeerkönigin« gesagt?
    Was habe ich ihm damals wohl geschrieben? Ich stehe auf, greife nach dem Bild, und sofort fühle ich etwas an der Rückseite des Rahmens. Neugierig drehe ich ihn um. Zu meiner Überraschung klebt dort ein Briefumschlag – mit meinem Namen. Ich erkenne Daniels Schrift, die Handschrift, mit der er auch um das Reinigen seines Anzugs gebeten hat. Mir stockt der Atem, und ich setze mich wieder. Ein Brief an mich. Daniel hat mir geschrieben. Endlich! Und zu spät! Kann ein Wunsch auch zu spät erfüllt werden? Mit zitternden Fingern reiße ich den Umschlag auf. Und halte Daniels Brief in den Händen.
     
    Liebe Eva, wenn Du diesen Umschlag öffnest, bist du tatsächlich gekommen. Ob es wohl schwer für Hubertus war, Dich zu überzeugen? Aber das ist gleichgültig, wenn Du diese Zeilen liest. Wenn du diese Zeilen liest, liebst Du immer noch das Abenteuer und bist immer noch genauso mutig und spontan wie damals, als wir vom Geburtstag Deiner Tante abgehauen sind. Ich hoffe nur, dass Du den Brief nicht zu spät findest.
     
    Ich lasse das Papier sinken. So also hat mich Daniel gesehen. Als mutig und spontan. Warum habe ich das nur selbst nie so empfunden?
    Das Mädchen in mir läuft die Treppe des Övelgönner Fährhauses hinunter und hinaus in den Regen. Es springt in den Swimmingpool, es erwidert Daniels Kuss. Ja, ich war spontan und mutig. Lächelnd lese ich weiter.
     
    Ich habe eine große Bitte an Dich. Eine Bitte, die nur Du erfüllen kannst und niemand sonst. Ich möchte nicht in Ohlsdorf beigesetzt werden. Ich wünsche mir, dass meine Asche an der Elbe verstreut wird. Nur Du weißt, wo. Du verstehst meinen Wunsch bestimmt sofort. Ich bin während meines gesamten Lebens immer wieder mal an »unseren« Platz gegangen, weil ich dort zu mir selbst gefunden habe. Heute war ich vielleicht zum letzten Mal dort. Gleich geht es wieder ins Krankenhaus, und ich glaube nicht, dass ich noch einmal zurückkehren werde. Wenn es so weit ist, spürt man das. Heute nun stand oben an der Elbchaussee ein Fahrrad, dort, wo es hinunter an den Fluss geht (weißt Du, dass diese Treppe zum Elbstrand ›Himmelsleiter‹ heißt?). Es war ein rotes Damenfahrrad, und auf dem Gepäckträger war eine bunte Strandtasche befestigt. Es sah genauso aus, wie ich mir das Fahrrad vorgestellt hatte, von dem Du in unserer Nacht erzählt hast. Weißt Du das noch? Du seist den Deich zur Nordsee hochgefahren, sagtest Du damals. Der Moment, kurz bevor man auf dem Deich angelangt ist, der Moment, in dem man das Meer schon hören und riechen kann, der Moment, in dem man weiß, dass man in der nächsten Sekunde das Meer sehen wird – das ist Glück. So ungefähr waren Deine Worte. Und jetzt stand da dieses Fahrrad, und ich musste wieder an Dich denken, an Dich und an das Glück. Da ist mir klargeworden, dass Du meine Grabrednerin sein sollst. Weil nur Du mich so kennengelernt hast, wie ich hätte sein können. Das Leben hat mich anders gemacht – und bestimmt hätte Dir vieles an mir nicht mehr gefallen.
     
    Ich schaue von dem Brief hoch. Daniel hat sich selbst gut gekannt. Und ich war wohl auf eine besondere Weise die Ausnahme von der Regel in seinem Leben.
    Ich wage kaum zu atmen und warte, bis sich mein Herz etwas beruhigt hat, bevor ich weiterlese.
     
    Liebe Eva, ich hatte in den letzten Monaten viel Zeit zum Nachdenken. Heute kann ich den glücklichsten Moment meines Lebens genau benennen: damals mit Dir in jener Nacht an der Elbe, an diesem Morgen, als wir die Sonne aufgehen sahen. In all den Jahren, die ich gelebt habe, war die Erinnerung an diese Nacht für mich wie ein Fenster, durch das ich Dich sehen konnte, wann immer ich wollte. Damals war alles, alles möglich. Scheitern war ein Fremdwort, der Tod existierte nicht, und ich war mir sicher, ich würde eines Tages das Meer wie kein anderer malen.
    Damals stand ich an der Schwelle zwischen Kind und Mann. Jetzt stehe ich wieder an einer Schwelle. Und der Gedanke, dass ich dorthin zurückkehre, wo ich so glücklich war, tröstet mich ein wenig in meiner Angst.
    Dein Freund Daniel
     
    In diesem Moment habe ich das Gefühl, als ob in meinem Brustkorb etwas reißt. Das Märchen vom Froschkönig kommt mir in den Sinn, das Benny als Kind so gern hörte. Dort bringt der treue Diener Heinrich den Froschkönig mit seiner Frau nach Hause, nachdem der sich wieder in einen Menschen verwandelt hat. Während ich meine Hand auf die Brust lege, murmle ich die Worte
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