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Entfesselt

Entfesselt

Titel: Entfesselt
Autoren: Cate Tiernan
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gewaltige Kraft auch viel Böses und großen Schaden anrichten konnte. »Aber mein Vater war der Älteste«, vermutete ich ins Blaue hinein.
      »Er war das schwarze Schaf!«, brüllte Egthor. »Er hat unseren Vater bitter enttäuscht! Statt zu lernen, hat er seine Tage mit Herumhuren und Trinken verbracht!«
      Hinter mir murmelte Amy müde: »Herumhuren? Echt?« »Ich dagegen habe gelernt! Gearbeitet! Ich habe die Magie unserer Familie Seite an Seite mit meinem Vater studiert. Er war stolz auf mich. Dein Vater aber war eine Schande!« Egthor regte sich immer mehr auf, und da er River weiter eisern festhielt, wurde sie heftig durchgeschüttelt.
      Die Stimme meiner Mutter war jetzt ganz deutlich in meinem Kopf. Neben Egthor hob River unmerklich das Kinn und sah mich an. Ich versuchte, nicht zu reagieren, als mir ihre wachen Augen eine Botschaft schickten. Du schaffst das.
      »Aber mein Vater war trotzdem der Älteste.«
      Auf Egthors Wangen flammten rote Wutflecke auf. Hastig fuhr ich fort: »Wieso hast du so lange gewartet? Wieso hast du dein angebliches Recht nicht schon eingefordert, als ich noch ein Kind war?«
      »Er ist erst vor Kurzem befreit worden.« Jetzt meldete sich die Frau neben Anne zum ersten Mal zu Wort. Ihre Wangenknochen standen unter den dunklen Augen hervor. Sie hatte
      feine silbergraue Haare wie River. Oh-oh. »Ich wollte mir mal anschauen, was vom Haus von Island noch übrig war, und bin doch glatt fündig geworden.«
      Ich war auch einst zurückgekehrt, aber nur ganz kurz. Die tote, verbrannte Erde hatte in mir so schreckliche Gefühle ausgelöst, dass es kein zweites Mal gegeben hatte.
      »Ich habe deinen Onkel gefunden. Er war in einem Kerker angekettet, festgehalten durch Nägel, die durch seine Handgelenke und Knöchel geschlagen waren«, sagte die Frau und allein die Vorstellung davon erfüllte mich mit Abscheu. »Der ganze Tunnel war verwünscht, um seine Kraft auszulöschen. Dort unten war keine Magie möglich.«
      »Heilige Mutter«, sagte Asher.
      Mein Onkel hob einen Arm. Die Haut heilte, doch in seinem Handgelenk hatte ein verfluchter Nagel, der ihn jahrhundertelang in seinem Gefängnis festgehalten hatte, eine tiefe Narbe hinterlassen. Die schockierende Erkenntnis, dass mein Vater seinen eigenen Bruder so misshandelt hatte, war einfach grauenhaft. Ich wollte so etwas nicht wissen.
      »Warum hat er dich nicht einfach umgebracht?«, fragte ich kleinlaut und voller Scham.
      »Er brauchte mein Wissen«, höhnte Egthor. »Der Unterricht, über den er sich immer lustig gemacht hat, war plötzlich nützlich für ihn. Er sagte, dass er mich am Leben lassen würde, solange ich ihm etwas beibringen konnte. Ich war anderthalb
      Jahre sein Gefangener, bis die Nordmänner kamen, diese Barbaren.« Oh mein Gott, er muss Reyn getötet haben. Und wo steckte Ottavio?
      »Und dann weitere viereinhalb Jahrhunderte. Glücklicherweise war die letzten dreihundert Jahre lang mit meinem Gehirn nicht mehr viel los und deshalb habe ich kaum noch was von meiner Lage mitbekommen.«
      Unsterblich zu sein, hat eindeutig Nachteile. Man kann nicht verhungern. Man bleibt am Leben, der Körper verfällt und das Gehirn versagt ohne Brennstoff seinen Dienst. Für meinen Onkel wäre es ein Akt der Gnade gewesen, wenn ihm jemand den Kopf abgeschlagen hätte. Mein Vater hatte ihn dort eingesperrt, hatte seinem eigenen Bruder so etwas angetan. Würde ich jemals wieder an meinen Vater denken können, ohne gleichzeitig Entsetzen und Abscheu zu empfinden?
      »Ich habe ihn vor acht Monaten gefunden«, fuhr die Frau fort. »Ich habe ihn befreit und gesundgepflegt.«
      »Warum?« Mein ganzer Körper vibrierte vor Kraft. Sie war unglaublich stark und hell.
      »Ich habe ihn verstanden«, sagte sie. »Auch ich wurde um die Macht meiner Familie betrogen. Als meine Cousins ihre Eltern getötet haben, waren sie gierig. Und jetzt bin ich hier, um meinen Teil zu beanspruchen.«
      »Agata«, murmelte River und Egthor schüttelte sie wieder. »Genau. Deine Cousine Agata«, sagte er. »Wir sind ein gutes Team. Wir haben die Unsterblichen auf der Welt spüren lassen, was Gerechtigkeit ist. Die Macht ist schon viel zu lange ungerecht verteilt.« Die Situation wurde immer unwirklicher.
      »Aber ihr verteilt sie nicht neu«, rief ich. »Ihr reißt sie an euch, um sie zu behalten. Erkennst du den Unterschied?«
      Nastasja. Das war Rivers Stimme in meinem Kopf, so deutlich hörbar wie Vogelzwitschern.
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