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Entfesselt

Entfesselt

Titel: Entfesselt
Autoren: Cate Tiernan
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gehabt. Das konnte nur eines bedeuten: Ottavio war tot.
      Asher kniete sich hin und zog Agatas Hände hinter ihren Rücken. »Tut mir leid, Agata«, sagte er und legte die Handschellen um ihre dünnen, knochigen Handgelenke. »Aber du weißt, dass wir dir das nicht durchgehen lassen können.«
      Agata sah aus, als hätte sie ihn am liebsten angespuckt, konnte es aber nicht.
      Asher erhob sich, das Gesicht rußverschmiert und müde, und ließ den Blick über unser kleines Häufchen wandern. »Daisuke. Joshua. Anne. Könnt ihr mitkommen? Ich bringe sie zu Benoit nach Minnesota.«
      Egthor stöhnte. Er sah aus wie mein Vater - sein Gesicht war zwar markanter und Haare und Bart meines Vaters waren länger gewesen, meistens geflochten und mit einem Lederband zusammengebunden. Aber trotzdem war die Familienähnlichkeit bei Egthor größer als bei jedem anderen, den ich in den letzten vierhundertfünfzig Jahren gesehen hatte. Ich konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Schließlich ging ich auf die Veranda zu und der Schmerz in meinem Bauch überstrahlte alles andere. Nur einen Fuß auf die Stufe zu heben, fühlte sich an, als hätte mir jemand eine Axt in den Bauch geschlagen.
      »Du wirst mir alles erzählen«, sagte ich drohend zu Egthor. Er knurrte mich an. Seine Wangen waren tränennass. Reyn versetzte ihm einen Tritt und Egthor verzog schmerzlich das Gesicht. Ich sah Reyn strafend an.
      Ich war Lilja af Ulfur. Ich weigerte mich, in die beschämenden Fußstapfen meines Vaters zu treten, wollte nichts mit der Erinnerung an seine grausamen und skrupellosen Taten zu tun haben. Aber seine Kraft floss durch meine Adern und das würde sich nie ändern. Ich verengte meine Augen zu Schlitzen, setzte eine eisige Miene auf und ließ all meine Wut heraus. »Du wirst mir alles erzählen!«, befahl ich grob. »Ich bin die Erbin des Hauses von Ulfur! Ich verfüge über die Kraft meiner Familie!« Ich hielt mein Amulett hoch und der Mondstein schimmerte weiß. Die Gier, mit der Egthor es anstarrte, gefiel mir gar nicht. Ich biss vor Schmerzen die Zähne zusammen und betete, dass ich nicht ohnmächtig werden und nach hinten umkippen würde. Ich zwang mich die letzten Stufen hinauf. »Du wirst mir alles erzählen«, zischte ich. »Du wirst mir sagen, was ich wissen will. Oder ich reiße dir mit nur einem Wort die Haut vom Körper, schneide deinen Kopf ab und verfüttere ihn an die Hunde!«
      Rivers Gesicht war ausdruckslos, Reyns eher wachsam. Am Fuß der Stufen klopfte Dufas Schwanz einmal auf den Boden, als wollte sie sich höflich dafür bedanken, dass ich ihr Egthors Kopf angeboten hatte.
      Egthors Augen weiteten sich, aber er antwortete nicht. Dann zerrte Asher an der Kette, Daisuke und Joshua kamen herbei um ihm zu helfen, und Anne begann, halblaut Beschwörungen zu murmeln. Egthor und Agata wurden weggeführt. River sank erschöpft auf die Verandastufen und schlug die Hände vors Gesicht.
      Vor meinen Augen wurde alles immer dunkler und das Rauschen in den Ohren kam in Form eines Tornados zurück. »Oh oh«, sagte ich und dann wurde alles schwarz.

33
 
      Und so, liebes Tagebuch, begann mein Leben im Alter von vierhundertneunundfünfzig Jahren. Und sieh dir an, was aus mir geworden ist: eine glorreiche Anführerin der Unsterblichen, die für ihr Wissen und ihre Weisheit respektiert wird und -
      »Und wovon träumst du nachts?«, fragte Reyn über meine Schulter. »Das glaubt dir doch keiner.«
      Ich funkelte ihn erbost an und versuchte, den Bildschirm mit den Händen zu verdecken. »Verzieh dich! Niemand will wissen, was du denkst!«
      »Glorreiche Anführerin der Unsterblichen?«, höhnte er. »Dabei hast du sogar das letzte Treffen verpasst, weil du die halbe Nacht aufgeblieben bist, um >Let's Dance< zu sehen!«
      »Halt den Schnabel! Niemand will deine Meinung hören!«
      »Außerdem bin ich größer, als du geschrieben hast.«
      »Oh mein Gott! Wie viel hast du gelesen?«
      »Ich bin fast einsneunzig.«
      Mir blieb der Mund offen. »Oh. Mein. Gott. Ich kann nicht fassen, dass du das alles gelesen hast.«
      Er grinste ohne das geringste Zeichen von Reue und wie üblich brachte dieser Anblick den kleinen Schmetterling in meinem Magen zum Flattern. Aber ich zerquetschte den kleinen Flattermann gnadenlos; immerhin ging es hier um ernste Dinge.
      Ich stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. Auf der Couch klappte die fast erwachsene Dufa die Augen auf und streckte sich.
      »Und?
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