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Entfesselt

Entfesselt

Titel: Entfesselt
Autoren: Cate Tiernan
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zurück. Kurze Zeit später gingen sie hinaus in den kalten, dunklen Nachmittag. Es war zwar erst halb drei, aber hier im hohen Norden war die Sonne natürlich längst untergegangen.
      Ich stand da wie erstarrt und in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, bis ich bemerkte, dass Meister Svenson mich beobachtete. Sofort fing ich wieder an, den Staubwedel zu schwingen.
      Am nächsten Tag rief mein Lehrherr mich von dem Glaskasten mit den Seidenschleifen weg, die ich gerade neu ordnete. Er wickelte etwas in braunes Papier ein, faltete es sorgsam und band es mit einer gewachsten Schnur zusammen. »Ich möchte, dass du das zu Madame Henstrom bringst«, sagte er. »Sie hat mehrere Stoffproben verlangt.« Er nahm seine Füllfeder heraus, tauchte sie in die Tinte und schrieb in seiner gebildeten, etwas schrägen Handschrift ihre Straße und Hausnummer auf das Paket. »Und nicht bummeln, Vali. Hier - kauf dir auf dem Rückweg etwas Süßes.« Er gab mir ein paar Kupfermünzen.
      »Vielen Dank, Herr«, sagte ich. Er war wirklich ein freundlicher Mann und bis jetzt war es ganz angenehm, für ihn zu arbeiten. Ich zog mir den Schal, den ich immer trug, fester um den Hals, warf mir meinen grünen Lodenumhang um und verließ eilig das Geschäft. Diese Madame Henstrom lebte etwa eine halbe Stunde Fußweg entfernt. Ich wich dem Straßenschmutz aus, den Pferden und den Leuten, die sich vor den Geschäften der Hauptstraße drängten, und war wieder einmal froh, in einer Stadt zu wohnen und nicht mehr auf dem Land. Uppsala war mit Abstand die größte Stadt, in der ich seit Reykjavik gelebt hatte. Auf dem Land senkte sich die Dunkelheit um einen wie eine Metallglocke, die über eine Kerze gestülpt wird, still und unerbittlich. Aber hier hörte man sogar um Mitternacht noch gelegentlich das Klappern von Pferdehufen auf dem Kopfsteinpflaster, das Schreien eines Babys und manchmal auch den etwas schrägen und lautstarken Gesang von Männern, die zu viel getrunken hatten. Und hier, in dieser Stadt, lebte mindestens noch eine weitere Unsterbliche.
      Die Straßen waren verschlungen und ich landete mehr als einmal in einer Sackgasse und musste umkehren und einen anderen Weg einschlagen. Ich ging so schnell ich konnte, vor allem, um mich warm zu halten, aber die feuchte Kälte kroch unter meinen Umhang und in meine knöchelhohen Stiefel. Als ich endlich die richtige Hausnummer gefunden hatte, war ich durchgefroren bis zu den Zehennägeln und bibberte vor Kälte. Das Haus war groß und ansehnlich, erbaut aus braunen Ziegelsteinen mit einem Muster aus andersfarbigen Steinen und einem angedeuteten Türmchen. Es hatte drei Stockwerke und zur Eingangstür ging es mehrere steile Stufen hinauf. Ich schlug den Messingtürklopfer in Form eines Löwenkopfes mehrmals gegen das Holz. Die schwarz gestrichene Tür wurde fast augenblicklich von einer großen kräftigen Frau in einer makellos weißen Schürze geöffnet. Sie hatte die geröteten und rauen Hände einer Dienstkraft, strahlte aber trotzdem eine gewisse Wichtigkeit aus. Also vielleicht die Haushälterin.
      »Meister Svenson schickt mich«, sagte ich. »Mit Stoffproben für Madame.« Ich hielt ihr das Päckchen entgegen, aber sie öffnete die Tür weiter.
      »Sie erwartet dich im Empfangszimmer.«
      »Mich? Ich bin doch nur ein Lehrmädchen.«
      »Geh schon.« Die Haushälterin deutete mit einer Kopfbewegung auf eine hellgrau gestrichene Doppeltür.
      Drinnen saß eine Frau vor einem weißen Marmorkamin, in den Früchte und Girlanden eingemeißelt waren. Blaue und weiße Fliesen mit Schiffsmotiven umgaben den Feuerraum und ich hätte mich am liebsten davor gekniet, mir jede einzelne angesehen und dabei die Wärme des Feuers genossen. Aber stattdessen blieb ich verlegen an der Tür stehen, bis sich die Frau  bewegte und ich ihr Gesicht sehen konnte. Mein Herz schlug sofort schneller: Es war die Frau aus dem Laden, die von gestern Nachmittag. Die Unsterbliche.
      »Oh, gut - die Proben von Meister Svenson«, sagte die Frau. Sie hatte eine angenehme, wohlklingende Stimme. »Ich möchte, dass du wartest, während ich sie mir ansehe. Dann kannst du deinem Lehrherrn gleich mitteilen, wofür ich mich entschieden habe.«
      »Ja, Madame«, sagte ich verblüfft.
      »Danke, Singe«, sagte die Frau zu ihrer Haushälterin, die sich jedoch nur zögerlich entfernte. Offensichtlich machte sie die Anwesenheit eines gewöhnlichen Ladenmädchens im vornehmen Salon ihrer Herrschaft
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