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Entfesselt

Entfesselt

Titel: Entfesselt
Autoren: Cate Tiernan
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und prunkvollsten Burgen Islands besessen, erbaut aus gigantischen Steinblöcken mit echten Glasfenstern, mit mindestens vierzehn Zimmern und Wandteppichen. Außerdem hatten wir Dienstboten, Lehrer, Musikinstrumente und sogar Bücher. Als ich meine Kindheit verlor, verlor ich auch alles andere.
      »Es ist eigentlich ganz einfach«, sagte Madame Henstrom, »wenn man sehr lange lebt, hat man viel Zeit zur Verfügung. Man kann sie nutzen, um sich weiterzubilden, in welcher Hinsicht auch immer. Und um Menschen kennenzulernen - einflussreiche Menschen. Man kann sich eine kleine Beschäftigung suchen und dabeibleiben, bis sie zu etwas Größerem heranwächst. Geld vermehrt sich im Laufe der Zeit. Also, zumindest solange man keine Dummheiten damit macht.«
      »Ich habe kein Geld.« Eigentlich hatte ich das nicht sagen wollen, aber es war mir so herausgerutscht. Ich wurde sofort rot, denn es war ja nicht zu übersehen, dass ich arm war wie eine Kirchenmaus.
      Madame Henstrom nickte mitfühlend. »Warst du jemals verheiratet?« »Zwei Mal. Aber die beiden hatten auch nichts.« Ich wollte nicht an sie denken, nicht an den lieben ungebildeten Asmunder, mit dem man mich verheiratet hatte, als ich sechzehn war, und auch nicht an den widerlichen Kerl, den ich rund vierzig Jahre später für den Richtigen gehalten hatte. Inzwischen waren sie ohnehin beide tot.
      »Vielleicht hast du die falschen Männer geheiratet.« In Madame Henstroms Stimme schwang keinerlei Sarkasmus mit - es war eher, als machte sie mir einen Vorschlag. Sie schwenkte die Hand durchs Zimmer, fast genauso, wie ich es kurz zuvor getan hatte. »Ich habe mein eigenes Geld, aber ich achte auch darauf, reiche Männer zu heiraten. Und wenn sie sterben, gehört ihr Geld mir allein, verstehst du?«
      Ich starrte sie fassungslos an. »Sie meinen damit ... ich soll versuchen, einen reichen Mann zu heiraten?«
      »Ich denke, dass die Heirat mit armen Männern dich nicht weitergebracht hat«, bemerkte sie und streichelte ihr Hündchen. »Du hast ein hübsches Gesicht. Mit anderer Kleidung und einer modernen Frisur würdest du die Blicke vieler Männer auf dich ziehen.«
      »Ich habe keine Familie, keine Beziehungen«, stammelte ich. »Ich bin ein Waisenkind ohne jeden Besitz. Wer würde mich heiraten wollen?« Ganz abgesehen davon, dass ich nie wieder heiraten wollte.
      Wieder neigte Madame Henstrom ihren Kopf zur Seite.
    »Meine Liebe - wenn ich dir erzählen würde, dass ich die fünfte Tochter eines reichen englischen Gutsbesitzers bin, wie würdest du das nachprüfen wollen? Die Welt ist so groß und es gibt so viele Menschen. Niemand kann sie alle kennen. Briefe, Nachfragen, so etwas dauert Monate und Monate. Erfinde dir eine Familie und eine Geschichte, wenn du das nächste Mal einen Boden scheuerst ... oder Stoffballen abstaubst. Und dann sei diese Person. Stell dich so vor. Werde ein neuer Mensch, wie du es ohne Zweifel schon öfter gemacht hast - aber verändere diesmal mehr als nur deinen Namen.«
      Ihre Worte rasten durch mein Gehirn wie ein Komet und schufen dort Raum für neue Ideen, neue Konzepte. Aber dann holte mich meine beschränkte Wirklichkeit wieder ein. Meine Hände zupften an meinem groben Umhang, dem schlichten Rock mit dem schlammigen Saum. Ich wusste nicht, womit ich anfangen sollte. Es machte mir Angst. »Ich weiß nicht -«, begann ich.
      Madame Hemstrom hob die Hand. »Meine Liebe - es ist November. Bleib bei Meister Svenson, bis du dir überlegt hast, wer du gern wärst, wenn dir alle Möglichkeiten offenständen. Ich werde im März wieder nach dir schicken.«
      »Ja, Madame«, sagte ich überwältigt und verängstigt und...unheimlich aufgeregt.
      Und im März schickte Madame Henstrom tatsächlich nach mir. Ich verließ Meister Svenson, nahm das Geld, das ich in den letzten sechs Monaten angespart hatte, und meine nächste Station war das Landhaus der Henstroms, rund zehn Kilometer außerhalb der Stadt. Dort wartete ihre private Schneiderin, die mir auf Anweisung der Hausherrin drei neue Kleider nähte und dabei sogar meine persönliche Marotte berücksichtigte, mein Genick stets bedeckt zu halten. Die Kleider waren schicker und prunkvoller als alles, was ich bisher besessen hatte, aber dennoch nicht so protzig, dass sie Erstaunen hervorriefen.
      Als ich in den Spiegel sah, mein weißblondes Haar kunstvoll geflochten, in einem blauen Kleid, das viel hübscher war als alles, was ich seit meiner Kindheit getragen hatte,
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