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Entfesselt

Entfesselt

Titel: Entfesselt
Autoren: Cate Tiernan
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traf mein Blick den von Madame Henstrom - Eva -, die wohlwollend lächelte.
      »Darf ich fragen«, begann ich zögernd.
      »Ja?«
      »Darf ich fragen, wieso Sie das für mich tun? Es wird Jahre dauern, bis ich Ihnen alles zurückzahlen kann.«
      Evas Miene wurde nachdenklich. »Weil ... vor mehr als hundert Jahren war ich wie du. Doppelt so alt wie du jetzt bist, aber im Grunde genauso. Ich war dumm und hatte keine Träume für meine Zukunft. Aber dann habe ich jemanden getroffen. Und ... ich tat ihr leid. Sie wollte mir helfen. Sie war die älteste Person, die ich jemals getroffen habe - damals war sie schon über sechshundert.« Madame Henstrom lächelte beinahe wehmütig. »Wie auch immer. Sie hat jedenfalls dasselbe für mich getan, was ich jetzt für dich mache. Ich wollte schon immer jemandem helfen, um auf diese Weise meine Schuld zu begleichen.« Wieder lächelte sie mich an. »Das ist meine gute Tat. Nimm sie an und genieße dein Leben.«
     
      ***
    Danach passierte einiges, Gutes und Schlechtes, aber kaum achtundzwanzig Jahre später war ich Elena Natoli, die Inhaberin eines Geschäfts für Spitzen in Neapel. Ich hätte schon viel reicher sein und mir viel mehr Luxus gönnen können, aber ich brachte es einfach nicht über mich, noch einmal zu heiraten.
      Ich habe die Frau, die sich Anfang des siebzehnten Jahrhunderts Eva Henstrom nannte, nie wieder gesehen. Hätte ich sie noch einmal getroffen, hätte ich ihr gedankt. Sie hat den Lauf meines Lebens geändert wie ein Sturm, der einen Fluss übers Ufer und auf neue Wege treibt.

2
 
     West Lowing, Massachusetts, USA
     Gegenwart
     Also, jetzt heben alle die Hand, die schon mal:
     - Essen, Eis oder ein Getränk vor jemandem verschüttet haben (oder sogar auf ihn),
    - festgestellt haben, dass sie einen Riesenfleck auf der Kleidung haben, der anscheinend schon den ganzen Tag da war, ohne dass jemand etwas gesagt hat (Extrapunkte, falls der Fleck mit dem weiblichen Zyklus zu tun hat),
    - bei einem wichtigen Essen mit jemandem einen dicken Krümel an der Lippe hatten und nichts kapierten, obwohl ihr Gegenüber unauffällig darauf hinzuweisen versuchte,
    - ein total einfaches Fremdwort vor allen anderen falsch ausgesprochen haben.
      Ich könnte ewig so weitermachen. Der Punkt ist, dass solche Sachen jedem passieren können. Ich wette, dass sie euch auch nach Jahren noch peinlich sind, stimmt's?
      Also, zu dem Thema kann ich nur sagen, regt euch ab, es gibt definitiv Schlimmeres.
      Wer erst einmal vor den Leuten weggelaufen ist, die einem nur helfen wollten, sich mit einem Typen zusammengetan hat, von dem jeder (man selbst eingeschlossen) wusste, dass er ein mieser Kerl ist; mit ihm rumgezogen ist, auch als er ausflippte, und zwar nicht auf die normale Weise wie jemand, der sich nur die Klamotten runterreißt und dann in einem öffentlichen Brunnen tanzt, sondern indem er schwarze, grauenhafte Magie benutzte, jemanden entführte und abschlachtete - also, wer das schon mal gemacht hat und dann zu den Leuten zurückgekehrt ist, die nur helfen wollten ... also dann darf derjenige sich gern bei mir melden. Aber solange das nicht der Fall ist, kratzt es mich kein bisschen, was für Steinchen andere Leute gerade im Schuh haben.
      »Nas? Nastasja?«
      Ich blinzelte und konzentrierte mich hastig wieder auf das Gesicht von Anne, eine meiner Lehrerinnen. Ihre runden blauen Augen sahen mich erwartungsvoll an und das braune Haar wippte ihr um die Schultern.
      »Äh ...« Ich fummelte an dem Tuch herum, das ich um den Hals trug. Was war die Frage gewesen? Ach ja. »Ringelblume«, sagte ich und identifizierte damit die orangefarbene Blüte auf der Karte, die Anne hochhielt. Bildkärtchen, die uns Schülern dabei helfen sollten, die endlosen Fakten über jedes einzelne Ding in der physischen, metaphysischen und spirituellen Welt zu lernen. Und das war erst der Anfang.
      Neben mir streckte Brynne ihre langen Beine unter dem Tisch aus und schlug sie dann erneut übereinander. Ich konnte spüren, wie gern sie mir zu Hilfe gekommen wäre. Sie wusste viel mehr als ich - alle wussten mehr als ich -, aber sie schaffte es, sich nicht einzumischen.
      »Eigenschaften?« Anne war nicht so geduldig wie River und allmählich nervte es uns beide, so viele Stunden damit verbringen zu müssen, das ganze Wissen so schnell wie möglich in mein Hirn zu hämmern. Ich war kein komplett hoffnungsloser Fall - ich wollte ja lernen -, aber heute schien es mir unmöglich,
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