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Entfesselt

Entfesselt

Titel: Entfesselt
Autoren: Cate Tiernan
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schleuderte Asher so heftig zur Seite, dass er Mühe hatte, sich auf den Füßen zu halten.
      Hinter ihnen ging eine große dünne Frau durch das Feuer, als wäre es nur eine Halloween-Deko. Anne folgte ihr, aber sie schien kaum bei Bewusstsein zu sein. Ihr Kopf hing runter und sie stolperte über die Schwelle. Annes und Rivers Gesichter hatten leichte Verbrennungen, aber die beiden anderen waren unversehrt.
      Meine Hand schloss sich fester um das Heft meines Schwerts. Um mich herum stieg die Anspannung: Joshua, Asher, Daisuke - sie alle machten sich kampfbereit.
      Als der Mann vortrat, fiel ihm das Mondlicht ins Gesicht. Ich runzelte die Stirn. Er war groß und kräftig wie ein Kriegspferd, hatte kurz geschnittenes rotgoldenes Haar und einen modisch kurzen Kinnbart. In meinem Kopf flatterte ein Gedanke herum wie ein Glühwürmchen in einem Glas.
      Diese rotgoldenen Haare ...
      Sein Blick fiel fast sofort auf mich und seine Augen durchbohrten mich wie Laser.
      »Lilja af Ulfur.« Die tiefe Stimme passte zu seiner Statur. Das Glühwürmchen in meinem Kopf fing zart an zu leuchten. Ich spürte plötzlich eine wachsende Wärme unter meinen Sweatshirt. Seit ich verletzt worden war, hatte mein kalter Schweiß mich frieren lassen, aber die Wärme, die jetzt von meiner Brust ausging, schien die Kälte zu vertreiben. Die unerträglichen Schmerzen in meinem Bauch ließen ein wenig nach. Es war mein Amulett. Ich war mir im Laufe der Nacht vage bewusst gewesen, dass ich es trug, hatte aber keine Zeit gehabt, daran zu denken, geschweige denn, es einzusetzen.
      Aber jetzt erwachte es zum Leben.
      »Lilja«, sagte der Mann noch einmal. »Dottur brodur mins Wie froh ich bin, dir endlich zu begegnen.«
      Tochter meines Bruders.
      Jetzt sahen mich alle an.
      »Wer -«, meine Stimme brach. »Wer bist du?«
      »Ich, meine entzückende Nichte, bin der wahre Erbe des isländischen Throns. Ich bin dein Onkel Egthor.«

32
 
      Ich hob das Kinn und versuchte, etwas kraftvoller zu klingen. »Ich habe noch nie von dir gehört.«
      »Natürlich nicht«, sagte der Mann. Seine Haare, die genau dieselbe Farbe hatten wie die von Eydis, glühten wie das Feuer. »Warum hätte dein Vater mich erwähnen sollen? Ich war sein tiefstes Geheimnis - der einzige Bruder, den er nicht sofort getötet hatte.«
      »Wo warst du die ganze Zeit? Wieso bist du nicht schon früher gekommen?« Ein ganz feines Geräusch drang an meine Ohren, es schwebte zart durch die Luft, vergleichbar mit dem Sirren einer Schwebefliege.
      »Ich war dort, wo dein Vater mich zurückgelassen hat«, sagte Egthor. »In dem Geheimgang unter seinem Hrokur.«
      Ich kannte nur den Geheimgang, der von der Bibliothek meines Vaters hinaus in den Wald führte, denn durch den war ich entkommen.
      »Du warst unter der Burg, als sie niederbrannte?«, fragte ich. Das merkwürdige, hauchartige Geräusch schien von meinem Kinn zu meinen Ohren hochzusteigen.
      Sein Gesicht verdüsterte sich. »Ja. Leider. Aber jetzt bin ich frei und gekommen, um die Macht zu beanspruchen, die mir schon seit viereinhalb Jahrhunderten zusteht.«
      Mir war jetzt wieder warm. Die Blutung aus meiner Stichwunde war bis auf ein leichtes Sickern zurückgegangen. Das Schwindelgefühl hatte ebenso nachgelassen wie der Schmerz. Das Amulett fühlte sich mittlerweile unangenehm heiß auf meiner Haut an. Erst da begriff ich, was ich hörte: Es war das Echo der Stimme meiner Mutter, die ihre Zauberkraft herbeisang. Es war der Gesang, den sie in der Nacht ihres Todes angestimmt hatte.
      »Warum solltest du der wahre Erbe sein?«, fragte ich und ließ meine Stimme absichtlich schwach und gebrochen klingen und bemühte mich, halb tot, blutig und geschlagen zu wirken. »Weil ich der bessere Schüler und der Liebling unseres Vaters war. Das Erbe gehört mir.« Jetzt war er unverkennbar gereizt. Seine Hand krallte sich fester um Rivers Arm und sie schwankte unter seinem Griff.
      Das Lied war jetzt ganz deutlich in meinem Kopf und zum ersten Mal verstand ich es. Es ging mir wie einem Kind, das gerade lesen gelernt hat und erkennt, wie das vermeintliche Durcheinander von Formen zu Buchstaben und schließlich zu Worten wird. Das Lied rief die Kräfte der Erde, des Windes und des Wassers an. Es lockte diese Kräfte an wie Vögel, die herbeifliegen, um sich auf einem Baum niederzulassen. Es war ein umwerfendes Gefühl, beinahe schmerzhaft glückselig. Ich war mir aber durchaus bewusst, dass diese
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