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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit
Autoren: L Jensen
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stellen, auf die sie je nach meiner Laune morbide, geschmacklose oder brutale Antworten bekämen. Erinnerungen an meine frühere Existenz und die Zukunft, die sie versprach, beginnen manchmal als harmlose, vaselineweiche, nostalgische Vignetten. Dann aber sitze ich plötzlich in einer Geisterbahn und rase in einen bösen schwarzen Kurzfilm, beleuchtet vom Todfeind aller Opfer der Umstände, der späten Einsicht. Um meiner geistigen Gesundheit willen entschuldige ich mich still bei Alex, bevor ich ihn in meiner Schublade begrabe, zusammen mit meiner Notfallflasche Laphroaig-Whisky und einer selbst gebastelten Blumenpresse, dem Geschenk eines Patienten, der sich an einer Wäscheleine erhängt hat.
    |16| Die Glücksschublade.
    Bevor ich mit dem Aufzug nach oben in den Raum fahre, den man mit schauerlichem bürokratischem Ernst Kreativwerkstatt getauft hat, blättere ich in Bethany Kralls Akte, wobei ich mir die ausführlichen Angaben zu Medikation und medizinischen Untersuchungen für später aufhebe. Die Fakten sind krass genug. Am 5.   April vor zwei Jahren erstach Bethany Krall in den Osterferien in einem irren und ungeklärten Angriff ihre Mutter Karen mit einem Schraubenzieher. Bethany Krall war vierzehn, klein und untergewichtig für ihr Alter. Umso bemerkenswerter, wie heftig und nachhaltig die Attacke verlief: Das Kind musste aus irgendeiner Quelle gewaltige Kraft geschöpft haben. Dass sie den Mord begangen hatte, stand außer Frage. Das Haus war von innen abgeschlossen, und ihre Fingerabdrücke fanden sich überall auf dem Tatwerkzeug. Bethanys Vater Leonard, ein evangelikaler Prediger, befand sich zu dieser Zeit auf einer Prophezeiungstagung in Birmingham, er war am Morgen abgereist. Eine Stunde vor der Tragödie hatte er noch nacheinander mit Frau und Tochter telefoniert und berichtete, Karen habe sich Sorgen wegen Bethanys Appetitmangel gemacht, während das Mädchen selbst über schwere Kopfschmerzen klagte. Karen Krall hatte das Telefon auf Mithören gestellt, und sie hatten miteinander gebetet. Das war Familientradition.
    Um halb elf Uhr abends hörte ein Nachbar laute Schreie und rief die Polizei. Als diese eintraf, war Karen Krall bereits tot. Man fand ihre Tochter neben ihr auf dem Boden, zusammengekrümmt in Fötus-Position. Auf diesem Foto kann man Bethanys Gesicht nicht sehen, wohl aber das ihrer Mutter, zumindest den Teil, der nicht mit Blut bedeckt ist. Der Schraubenzieher steckt tief in ihrem linken Auge, der gelbe Plastikgriff ragt heraus. Er wirkt seltsam munter wie eine Gabel in einem blutigen Steak, das keiner mehr essen will. Auf der Blutlache am Boden hat sich eine Haut gebildet, wie bei Acryl- oder Dispersionsfarbe. Ein Foto zeigt einen offenen Mülleimer, der laut Unterlagen »die |17| verkohlten Überreste einer King-James-Bibel« enthält. Eine Untersuchung, die unmittelbar nach der Tragödie vorgenommen wurde, ergab frische blaue Flecke an Bethanys Körper, vor allem an den Oberarmen, und Verletzungen an beiden Handgelenken. Daraus schloss man auf einen heftigen Kampf.
    Auf der nächsten Seite findet sich ein Bild der Kralls aus glücklicheren Zeiten, aufgenommen ein Jahr, bevor die Familie implodierte. Es zeigt ein dunkelhaariges Kind mit scharfen Zügen, flankiert von den Eltern: einem gut aussehenden Vater und seiner blassen, mageren Frau. Alle lächeln breit – Bethany so breit, dass ihre Zahnspange im Mittelpunkt steht. Unglücklichsein kann viele Formen annehmen. Bethanys Lehrer beschrieben sie als hochintelligent, aber gestört. Zwischen den Zeilen lese ich, dass sie wie so viele Kinder ihrer Generation das klassische Produkt der »interessanten Zeiten« des vergangenen Jahrzehnts ist, der Lebensmittelknappheit, Massenaufstände und eines Nahostkrieges von apokalyptischen Ausmaßen. Sie wurde vor allem durch die
Glaubenswelle
geprägt, die dem weltweiten wirtschaftlichen Zusammenbruch folgte: Bethany, starrköpfige Tochter eines Predigers, rebellierte gegen die dominante Rolle, die das fundamentalistische Christentum in ihrem Leben einnahm. In der Schule galt sie als selbstzerstörerisch und hatte sehr wahrscheinlich sexuelle Beziehungen zu Jungen, blieb im Unterricht aber aufmerksam und zeigte besonderes Talent in Naturwissenschaften, Kunst und Erdkunde. Es gab keine offenkundigen Anzeichen einer psychischen Erkrankung, doch wurde bei einer Lehrerkonferenz am Schuljahresende die Sorge geäußert, dass sie »unglücklicher als gewöhnlich« schien.
    Ich blättere zum
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