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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit
Autoren: L Jensen
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Überstunden in Sachen Verdrängung, rotierend wie eine kaputte Zentrifuge auf Höchstgeschwindigkeit.
    Morgens verschmilzt die bescheidene Skyline von Hadport sanft mit dem Küstennebel, der im Frühlicht geradezu metaphysisch wirkt. Ein Spritzer helle Luft trifft aufs Wasser, und zarte chemische Auren umtanzen einander, bevor sie sich vereinigen und in die Stratosphäre aufsteigen. Konservativ denkende Engel, die sich angesichts ihrer beschränkten himmlischen Rente zum Umzug gezwungen sehen, könnten sich eine solche Stadt für ihren Lebensabend aussuchen. Ebenso mein einstmals energischer und kultivierter Vater, vorausgesetzt, er wäre lange genug bei Verstand geblieben, um Prospekte von Seniorenheimen zu lesen, statt sich ins Pflegeheim zu alzheimern und seine wachen Stunden mit Zeichentrickfilmen und einem Sabberlätzchen aus Plastik zu verbringen: ein wahrlich trauriges Ende für einen ehemaligen Diplomaten. Wenn man früh genug das Haus verlässt, schmeckt man prickelndes Ozon.
Genügend Parkplätze
, hätte mein praktisch denkender Vater im Prä-gaga-Stadium gesagt, wenn er mich bei meinen morgendlichen Ausflügen auf den kaugummiübersäten Gehwegen meiner neuen Heimatstadt begleitet hätte.
Sehr nützlich in deiner Lage, Gabrielle.
Später am Tag würde er diese gute Meinung ein wenig einschränken. Hadport liegt in der Nähe |12| des Kanaltunnels und hat einen hohen Anteil illegaler Einwanderer und Asylbewerber: die Bevölkerung der billigen Pensionen, die Unterschicht ohne Wurzeln. Auf sie stürzt sich der
Courier
im Namen der »alteingesessenen« Bürger, die erst müdes Mitleid zeigten, nun aber eine krankhafte Abneigung entwickelt haben – von den Leitartikeln als gerechtfertigte Empörung bezeichnet. Während der Tag sich entfaltet, füllen sich die Mülleimer und quellen schließlich über von Starbucks-Bechern, Klatschmagazinen, zerdrückten Bierdosen und Burgerkartons, die aussehen wie aufklaffende Muschelschalen aus Styropor: die leeren Hüllen dessen, was die britische Seele nährt. Mit der Dämmerung kommen räudige Füchse, die durch die bohrende Hitze streichen und Nahrung suchen.
    In meinem neuen Leben verbringe ich die Wochentage meist zwei Kilometer außerhalb der Stadt, jenseits verstopfter Hauptstraßen und Mini-Kreisverkehre. Wenn man die Industriebrache an der East Road passiert, das Matratzen-Lagerhaus, die Souls Harbour Apostolic Church, die Brennstoffzellenfabrik und ein hohes Gebäude, bei dem es sich angeblich um eine bahnbrechend moderne Schweinefarm handelt, und dann bei dem riesigen Strommast, der aus einem bestimmten Blickwinkel wie ein Rodeoreiter auf dem Ledermöbel-Outlet hockt, rechts abbiegt, sieht man schon den diskreten Wegweiser zu meinem Arbeitsplatz.
    Eigentlich hätte es wohl längst abgerissen werden sollen. Das weiße Herrenhaus hinter dem Elektrozaun stammt aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert und sieht aus wie ein altersschwaches Kreuzfahrtschiff, das zwischen Andentannen, Zypressen und stacheligen Palmen ankert, Golfstrom-Gewächsen aus edwardianischer Zeit. Früher war es ein Hotel für Rekonvaleszenten, denen man Seeluft verschrieben hatte. Die weiße Backsteinfassade und die Nebengebäude sind von Rissen durchzogen wie altes Marzipan. Glyzinien und Geißblatt wuchern an schmiedeeisernen Balkonen, Pergolen und rostigen Gartenpavillons empor. Man könnte auf die Idee kommen, Dornröschen |13| schlafe in einem gläsernen Sarg irgendwo hinter der Rezeption. Stattdessen betritt man ein Museum bröckelnder Stuckdecken. Das Gebäude produziert eine ganz eigene Luft, die nicht mit der Duftkerzenkultur moderner Zeiten Schritt gehalten hat. Hier überlagert Lufterfrischer mit Fichtennadelaroma die tieferen Schichten von W C-Ente , Hausschwamm und dem traurig-süßlichen chemischen Geruch psychischen Leidens.
    Willkommen im Oxsmith Adolescent Secure Psychiatric Hospital, dem Heim der hundert gefährlichsten Kinder im Land.
    Zu ihnen gehört auch Bethany Krall.
    Von meinem Büro im Erdgeschoss sieht man in der Ferne eine Reihe weißer Windräder, die wie elegante Küchenmaschinen im Meer stehen. Ich bewundere die Anmut ihrer Konstruktion, ihre schlanke Diskretion. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, sie zu malen, aber der Drang ist zu theoretisch, zu weit entfernt vom noch funktionierenden Teil meiner selbst. Oft schaue ich zum Horizont, wie gebannt von ihrer geschmeidigen, geschäftigen Antwort auf den Wind. Bisweilen, wenn mich eine Art Lagerkoller überfällt,
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