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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit
Autoren: L Jensen
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nächsten Teil, dem Bericht des Polizeipsychiaters. Dr.   Waxman schreibt wortreich, aber die Geschichte ist im Grunde einfach. Unmittelbar nach dem Mord setzte bei Bethany ein Bewältigungsmechanismus ein, der so brutal und effizient war wie eine Amputation auf dem Schlachtfeld: Sie verlor das Gedächtnis. Sie bestritt die Tat nicht, behauptete aber, sie könne |18| sich nicht daran erinnern und wisse auch nicht, was sie zu einem so drastischen Handeln bewogen habe. Auch wollte sie nicht mit ihrem Vater sprechen, als dieser tief bestürzt von seiner Reise nach Birmingham zurückkehrte. Ihre Weigerung führte zu beunruhigenden Szenen. »Eine selbst gewählte Amnesie als Form der Verweigerung oder Zuflucht ist bei Trauma-Opfern nicht ungewöhnlich«, notiert Waxman. »Im Zusammenhang mit einem Verbrechen kann diese beim Täter ebenso wie bei seinem Opfer auftreten.« Er überwies sie nach Oxsmith, verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, sie werde in den kommenden Wochen und Monaten Fortschritte machen, und wandte sich dem nächsten Fall zu.
    Waxmans Optimismus bezüglich der positiven Wirkung des Oxsmith Adolescent Secure Psychiatric Hospital war unbegründet. Zwei Jahre nach ihrer Aufnahme hatte Bethany Krall vier Selbstmordversuche hinter sich und einen anderen Patienten ernsthaft angegriffen. Ihr Gedächtnis war wiedergekehrt, doch sie weigerte sich, über den Mord und das, was ihn ausgelöst hatte, zu sprechen. Sie aß kaum mehr und erhielt, nachdem eine akute Depression diagnostiziert worden war, eine breite Palette psychotroper Substanzen, von denen keine ihre Stimmung heben konnte. Bethany zeigte kein Interesse an den therapeutischen Sitzungen und blieb die meiste Zeit stumm. Wenn sie sprach, äußerte sie die Überzeugung, dass ihr Herz schrumpfe, ihr Blut vergiftet sei und sie »von innen verfaule«. Man versuchte es mit zunehmend experimentellen Medikamentenkombinationen, von denen manche zu einer Verschlechterung ihres geistigen Zustands führten und Nebenwirkungen wie Zittern, übermäßigen Speichelfluss, Lethargie und einmal sogar einen Krampfanfall hervorriefen. Sie zeigte eine extreme Verstörtheit, schnitt sich häufig und litt an gefährlichem Untergewicht.
    Nach einem schweren Gewitter, bei dem sie mit einer Plastikgabel auf ihre Kehle eingestochen hatte, behauptete Bethany schließlich, sie sei tot, und ihr Körper verwese allmählich. Da sie als Leiche keine Nahrung verdauen konnte, hörte sie gänzlich |19| auf zu essen. An diesem Punkt diagnostizierte man das Cotard-Syndrom, die nihilistische Überzeugung, dass der eigene Körper verstorben sei, und beschloss nach längerer Diskussion, dass eine Elektrokonvulsionstherapie die letzte Möglichkeit sei.
    Die Resultate werden als »dramatisch« beschrieben. Bethany begann zu essen, zu sprechen und reagierte positiver auf die Therapie. Obwohl sie unmittelbar nach der Anwendung die üblichen Nebenwirkungen wie Verlust des Kurzzeitgedächtnisses und Orientierungslosigkeit zeigte, beurteilten die Psychiater die Behandlung als absoluten Erfolg. Bethany erklärte, sie fühle sich »lebendiger«, und behauptete mit Nachdruck, die EKT als positiv zu erleben, obwohl sie sich während der gesamten Anwendung in Narkose befunden hatte und sich unmöglich daran erinnern konnte. In der Welt der geistig Gestörten ist das Absonderliche jedoch relativ. Alles ist denkbar und äußert sich mit der verdrehten Anti-Logik, nach der auch Angstträume funktionieren: Dosen mit Mangoscheiben enthalten verschlüsselte Botschaften des Amtes für Nationale Statistik; jemand ist überzeugt, sein Skelett werde sich auflösen, wenn er an Sex denkt; ein Mensch leidet unter der Angst, einzementiert zu werden. Ein jugendlicher Brandstifter, mit dem ich es einmal zu tun hatte und der die chemische Zusammensetzung jedes nur erdenklichen entflammbaren Gases auswendig wusste, bestand darauf, aus Angst vor einer Kiefersperre immer den Mund offen zu halten. Er schlief mit einem Kissenzipfel zwischen den Zähnen, als hinge sein Leben davon ab. Der bunte Teppich des Lebens, pflegte mein Vater in seinen Bridge-und-Kreuzworträtsel-Tagen zu sagen, bevor Zeichentrickfilme und Sabberlätzchen die Regie übernahmen.
    Nachdem die Elektroschockbehandlung zunächst fünf Wochen lang einmal wöchentlich angewandt wurde, erhält Bethany seit März monatliche Erhaltungsdosen von einem gewissen Dr.   Ehmet, den ich noch nicht kennengelernt habe, obwohl ich schon seinen Hinterkopf gesehen und festgestellt
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