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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit
Autoren: L Jensen
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seltsam heiser, als hätte man ihre Kehle mit Scheuersand bearbeitet.
    »Schön, dich kennenzulernen, Bethany«, sage ich und beuge mich vor, um ihr die Hand zu geben. »Ich bin Therapeutin, keine Ärztin.«
    »Anderes Arschloch, gleiche Scheiße«, verkündet sie, ohne meine Hand zu ergreifen. Genau wie ich trägt sie Schwarz, die Farbe der Trauer. Glaubt sie immer noch, sie sei gestorben?
    »Gabrielle Fox. Ich bin neu hier. Ich vertrete Joy McConey.«
    »Ich gebe jedem von euch eine Chance. Jeder fängt mit zehn von zehn Sternen an.« Sie betrachtet prüfend meinen Rollstuhl. »Sie bekommen einen Extrastern, weil Sie ein Spasti sind. Positive Diskriminierung. Also fangen Sie mit elf an.« In ihren Unterlagen stand, sie sei redegewandt, aber ich bin dennoch überrascht. Das ist an solchen Orten selten.
    »Zehn reichen völlig aus, Bethany. Das ist sogar sehr großzügig von dir. Ich bin auf Kunsttherapie spezialisiert. Die Theorie besagt, dass man mit Kunst Gefühle manchmal besser ausdrücken kann als mit Worten.«
    Ihre Augen sind dunkel, katzenhaft und dick mit Kajal umrahmt. Fahle, olivbraune Haut, ein schmales, asymmetrisches Gesicht: Sie ist eher markant als hübsch. Kein Nymphchen. Sie sieht ganz anders aus als das Mädchen auf dem Familienfoto. Hat sie in den letzten zwei Jahren die ganz eigene Jugendkultur dieser Einrichtung in sich aufgesogen, oder ist die Haltung angeboren? Sie spricht und benimmt sich, als wäre sie auf Streit aus, aber das ist bei den meisten so. Erste Einschätzung: viel intelligenter und sprachgewandter als die meisten, ansonsten das Übliche.
    »Kurz gesagt, ich bin hier, um dir zu helfen und dich zu ermutigen, das auszudrücken, was immer du ausdrücken möchtest, hier in« – ich bringe das Wort Kreativwerkstatt nicht über die |23| Lippen – »im Kunstraum. Egal was. Es gibt keine Grenzen. Es ist eine Erforschung. Manchmal führt sie einen an dunkle Orte. Aber ich bin bei dir.«
    »Ein Spasti, der mich beschützt. Ist ja toll. Super, Sie an
dunklen Orten
an meiner Seite zu haben, während Sie irgendwelches Psychoblabla brabbeln.«
    »Ich bin einfach nur jemand, mit dem du reden kannst. Und wenn du das nicht willst, gebe ich dir Papier und Farben. Nicht alles funktioniert mit Worten. So groß dein Vokabular auch sein mag.«
    Sie steckt zwei Finger in den Mund, als müsste sie sich übergeben. »Sie sind schon runter auf fünf. Ich sehe, Sie gehören nicht hierher.« Sie schaut mich ungerührt an. »Vielleicht sollten Sie einfach mit Ihrem Spastimobil in den Sonnenuntergang rollen. Bevor was Schlimmes passiert.« Sie geht um den Rollstuhl herum, bleibt hinter mir stehen und flüstert mir ins Ohr: »Sie vertreten also Joy. Die tragische Joy. Sie haben sicher von den beklagenswerten Umständen gehört, die zu ihrem Abgang geführt haben.« Ihr geschickter Gebrauch von Phrasen könnte mir verraten, wie sie tickt. Sie spricht, als wäre ihr Leben ein Gegenstand, den sie aus der Ferne betrachtet, ein Quell der Belustigung, mehr Fiktion als Wirklichkeit. »Ich habe sie vor dem gewarnt, was passieren würde. Ich habe sie gewarnt.«
    Jetzt hat sie mich am Haken, aber ich hüte mich, Interesse an meiner Vorgängerin zu zeigen, und deute auf die Wände. »Ist da etwas von dir dabei?«
    Man kann das wie ein Spiel betreiben: die Kunstwerke dem jeweiligen Irren zuordnen. Da ich aber unfreiwillig eine Menge Zeit in Casinos verbracht habe, zwischen Roulette, Backgammon-Tischen und aufgestapelten Jetons, hat es für mich zu viel Ähnlichkeit mit Poker. Auch dies ein Zeitvertreib, vor dem man sich hüten sollte.
    »Joy war tragisch, aber das sind Sie auch«, fährt sie fort, ohne meine Frage zu beachten. »Ich meine, Sie geben sich Mühe beim |24| Schminken, obwohl sowieso keiner zweimal hinsieht. Egal, wie heiß Sie sind. Außer irgendwelchen Perversen. Ist nicht böse gemeint. Aber mal ehrlich, Spasti, so sieht’s aus.«
    Wenn man zeigt, dass der Schlag gesessen hat, haben sie gewonnen. Dann sind sie allmächtig. Und nutzen es aus. »Ich habe gefragt, ob eines dieser Werke von dir stammt«, sage ich leichthin. »Und du kannst mich Gabrielle nennen.«
    »Meinen Sie diese großen Meisterwerke?«
    Sie schaut sich verächtlich um. Es sind die üblichen Motive: Blumen, anarchistische systemkritische Graffiti, Friedhöfe, Dschungeltiere, üppige Brüste und aufgeblähte Phalli. Aber es gibt auch einige Besonderheiten. Ein Patient, ein magerer Zwölfjähriger, der seinem Vater dabei geholfen hat,
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