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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit
Autoren: L Jensen
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habe, dass er mal wieder zum Friseur gehen sollte. So wirksam die EKT auch sein |20| mag, Bethany weigert sich weiterhin, über ihre Eltern und das katastrophale Ereignis, das sie hierher gebracht hat, zu sprechen. Es ist nach wie vor ein Rätsel, warum sie ihre Mutter an einem Aprilabend angegriffen und mit einem Schraubenzieher ermordet hat. Ich bin mir nicht sicher, wie wichtig diese Weigerung aus therapeutischer Sicht ist. Ein Prinzip der Psychologie besagt, dass verschüttete Traumata zutage gefördert und verarbeitet werden müssen, bevor ein Patient neu beginnen kann. Diese Argumentation überzeugt mich immer weniger. Gäbe es eine Pille, mit der man das Grauen unterdrücken kann, würde ich sie nehmen und die letzten beiden Jahre meines Lebens auslöschen. Das Gehirn ist so unerforscht und unermesslich wie die See und ebenso launenhaft. Aber es ist auch klug genug, das zu tun, was einen Körper am Leben erhält. Wer kann wirklich behaupten, es nütze Bethany Krall, wenn man ihre Tat und deren Beweggründe forensisch analysiert? Spürt sie dies unbewusst und will mithilfe der EKT einen entscheidenden Teil ihres Gedächtnisses auslöschen?
    Da ich nicht viel Zeit habe, blättere ich den Rest rasch durch. Darunter findet sich eine Notiz, die der leitende Psychiater von Oxsmith, Dr.   Sheldon-Gray, nachträglich hinzugefügt hat.
Der Vater der Patientin, Leonard Krall, weigert sich, Bethany in Oxsmith zu besuchen. Aus therapeutischer Sicht mag dies vorteilhaft für Bethany sein, da er den Mord an seiner Frau damit erklärt, Bethany sei »vom Bösen besessen«.
    Auch ich habe ein Problem mit solchen Begriffen. Als meine Mutter starb, schickte mein Vater mich in ein katholisches Mädcheninternat, in dem unerschütterliche biblische Wahrheiten herrschten – Wahrheiten, die einem Mann wie Krall und den Millionen, die wie er während der
Glaubenswelle
konvertiert sind, bekannt sein dürften. Da er aus solchen Gewissheiten heraus lebt, weiß er, dass die einzige Erklärung für Bethanys Gewalttätigkeit nicht irdischer Natur ist, dass es sich nicht um Schmerz oder Rache oder Zorn oder ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn handelt, sondern um eine »Visitation«. Der wahre Glaube, |21| der als »brennend« beschrieben wird, hat seine eigene Aura: eine Art selbstgerechter Dreistigkeit. Man erlebt sie bei den Massenaufmärschen der Gläubigen, wenn die Gesichter von innen erglühen. Diese Überzeugung, diese Leidenschaft, diese Energie – man könnte sie glatt beneiden.
    Als ich zu meiner Sitzung mit Bethany in den Kunstraum komme, wartet bereits ein stämmiger Krankenpfleger, der am Handy eine umständliche technische Diskussion über die Schichtpläne führt. Rafik sei tough und wachsam, habe ich gehört, doch die Geste, mit der er mir »Bin gleich so weit« signalisiert, wirkt nicht gerade vertrauenerweckend. Obwohl ich in den vergangenen Monaten viel Zeit damit verbracht habe, neue Techniken zur Selbstverteidigung zu entwickeln und einzuüben, darunter das Ergreifen und Umdrehen empfindlicher Körperteile und das strategische Werfen von Gegenständen, fühle ich mich immer verletzlich, als bewegliches Ziel. Aus der Akte weiß ich, dass Bethany Krall im vergangenen Dezember einem Jungen das Ohr abgebissen hat, als er sie sexuell attackierte. Sie zerkaute es so stark, dass es nicht mehr angenäht werden konnte.
    Oh, wunderbar. Bringt sie nur her.
    Plötzlich, zu plötzlich, macht ein riesiger Krankenpfleger mit tätowierten Armen genau das. Die Tür ist aufgegangen, und ein dunkles Mädchen, ein Strich in der Landschaft, kommt auf mich zu. Kommt mir zu nah. Man gewöhnt sich nie daran, dass alle größer sind als man selbst, man sieht sie immer aus dem falschen Blickwinkel. Sie sollte ein bisschen zurücktreten. Aber das tut sie nicht. Rafik grunzt dem Berg von einem Kollegen etwas zu, worauf dieser mir zunickt, als wollte er sagen, Paket abgeliefert. Er verschwindet. Ich könnte zurückweichen, will es aber nicht riskieren. Sie würde merken, was es bedeutet.
    Bethany Krall ist klein, zart wie ein Vogel und für eine Sechzehnjährige ziemlich unterentwickelt. Ihr schwarzes Haar steht vom Kopf ab wie das wütende Gekritzel eines Kindes. Selbstverletzung ist bei den Patientinnen in Oxsmith ein beliebtes Hobby, |22| und auf ihren nackten Armen sehe ich das übliche Durcheinander von Brandnarben und Schnitten, manche alt, andere frischer.
    »Halleluja. Die neue Psychiaterin.« Ihre Stimme klingt kindlich, aber
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