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Endstation Nippes

Titel: Endstation Nippes
Autoren: Ingrid Strobl
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ich verabschiedete mich. Wenn man nicht selbst produziert, muss man nicht bis zum Schluss bleiben, sprich bis alles sauber abgemischt und in den Redaktionsspeicher überspielt ist. Das durfte der Jung nun selbst machen.
    Ich konnte es nicht lassen und schob das Rad über den Bahnhofsvorplatz. Fragte mich, wieso ich so erpicht darauf war, diesen Jungen wiederzusehen. Was sollte ich denn mit ihm machen? Selbst wenn er es zuließ, wie konnte ich ihm helfen? Ich war mir allerdings hundertprozentig sicher, dass er Hilfe brauchte. Und zwar dringend. Obwohl, überlegte ich weiter, vielleicht phantasiere ich mir doch nur etwas zusammen? Weil ich immer noch Schuldgefühle habe?
    Und schon war er wieder da, auferstanden aus den Tiefen der verdrängten Erinnerung: der kleine Walter. Der offenbar für all die Kids, die ich auf den diversen Straßen dieser Welt hatte rumlungern sehen, die Einflugschneise direktemang in mein Herz war. Ich setzte mich an einen der Tische des Zeit-Cafés und zündete mir eine Zigarette an.
    Walter hatte mich gefragt, ob ich ihm Geld leihen könnte. Da war er dreizehn und wollte weg. Kein Opfer mehr sein. Sich nicht mehr misshandeln lassen. Ich war einerseits froh, dass er sich endlich aufgerafft hatte. Aber ich traute es ihm nicht zu. Ich war mir sicher, dass er das nicht packte. Dass sie ihn wieder einfangen würden. Ich nahm ihn nicht ernst. Heute ist »Du Opfer!« eine üble Beschimpfung. Damals taten einem Opfer leid. Aber ernst nahm man sie nicht. Und ich schon gar nicht. Ich sagte Walter, ich hätte kein Geld. Was auch stimmte, bloß, ich hätte meinen großen Bruder um etwas bitten können. Eine Ausrede, wofür ich das Geld brauchte, wäre mir schon eingefallen. Aber ich tat es nicht. Und ich schäme mich heute noch dafür.
    Ich gab es auf. Fuhr nach Hause und hielt bei REWE , um einzukaufen. Im rechten Augenwinkel nahm ich den Titel des Express wahr. Drehte mich um und sah ihn mir genauer an: » HORROR !«, prangte oben drüber als Schlagzeile und darunter: »Verkohlte Kinderleiche im Rhein!« Ich nahm mir ein Exemplar aus dem Ständer und las den Rest. Gestern am späten Abend hatte die Polizei im Niehler Hafen eine circa einen Meter zwanzig kleine Leiche aus dem Rhein geborgen. Über die Identität des oder der Toten war noch nichts bekannt, und es würde auch, so der Polizeisprecher, schwierig werden, sie festzustellen. Das Mädchen, das Frau Grimme in Pflege gehabt hatte und das sich nicht bei ihr meldete, fiel mir ein. Ich hoffte inständig, dass sie das nicht war. Aber irgendein Kind war es. Ich nahm den Express mit und machte mich endgültig auf den Heimweg.
    Eigentlich wollte ich mich etwas hinlegen und dann in Ruhe mein Qigong machen, bevor Gitta hier eintrudelte. Daraus wurde aber nichts, denn Nele stand plötzlich in der Tür und sah hundeelend aus. Ich machte uns Tee, und nach einer Weile rückte sie mit der Sprache heraus. Sie hatte grauenhafte Angst vor der Therapie. Wollte da nicht mehr hin. Wollte lieber auf Methadon bleiben. Oder noch lieber zurück zum Heroin, ins gute alte Junkieleben. War doch gar nicht so schlecht, oder? Ja, schon Stress, aber auch schön. Und sie war nun mal nicht zur Spießerin geboren.
    Ich ließ sie reden. Versuchte einzuschätzen, wie nah am Absprung sie war.
    Als sie alle ihre Argumente vorgebracht hatte und schließlich schwieg, legte ich los: »Ja, war bestimmt ‘n superschönes Leben. Vor allem, wenn die Freier sich den Schwanz schon ein paar Tage nicht gewaschen haben, hat lecker geschmeckt, ne? Und der Duft! Da konntste gar nicht genug von kriegen, das kann ich mir gut vorstellen. Und dann immer der Kick, geh ich jetzt auf Turkey oder raff ich doch noch die Kohle zusammen? Cool. Und am coolsten war’s immer, wenn du auf Turkey am Anschaffen warst. Nö, wenn ich so ‘n aufregendes Leben gehabt hätte, ich würd das auch nicht aufgeben wollen.«
    Sie sah mich bitterböse an. »Ich find’s echt nicht gut, dass du dich über mich lustig machst.«
    »Ich mach mich nicht über dich lustig. Ganz im Gegenteil. Ich find’s überhaupt nicht komisch, dass du plötzlich dein Scheißjunkieleben idealisierst. Du weißt genau, wie’s war. Und klar tut die Therapie weh. Aber weiter aufn Strich gehen tut noch mehr weh. So kannst du dich gar nicht zudröhnen, dass das nicht wehtut.«
    Sie steckte sich eine neue Kippe an der alten an und starrte die Wand an.
    »Hör mal, Süße«, fing ich wieder an, »ich besuch dich in Düren, und ich besuch dich in der
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