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Empty Mile

Empty Mile

Titel: Empty Mile
Autoren: Matthew Stokoe
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er mir geistig unterlegen schien, war er klüger gewesen als ich. Er hatte begriffen, dass es unmöglich ist, sich an Schuldgefühle zu klammern und gleichzeitig zu hoffen, dass man ein erträgliches oder gar lebenswertes Leben führen kann. Und jetzt, im Angesicht meines vollkommenen Scheiterns, begriff ich endlich, dass er recht gehabt hatte. Es war nicht wichtig, Schuldgefühle abzuschütteln, sondern eine Möglichkeit zu finden, mit ihnen klarzukommen, einzusehen, dass man mit der Vergangenheit leben und sie nicht bekämpfen muss.
    Meine Schuld war zum beherrschenden Faktor meiner Welt geworden, doch an diesem Tag, als ich zusah, wie das Wasser des Sees dunkler wurde, stieß mich die schiere Last der Reue schließlich über eine Grenze und versiegelte wie durch eine elektrische Überladung den Teil von mir, der mir meine eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten immer wieder auf so quälende Weise zum Vorwurf machte. Ich hatte mir schlicht und einfach zu viel aufgebürdet. Doch ich wusste auch, wenn ich mich weiterhin von meinen Schuldgefühlen beherrschen ließ, wenn ich sie weiterhin hegte und am Leben hielt, dann würde ich mit Sicherheit auch das Letzte in der Welt zerstören, was mir noch etwas bedeutete. Dann gäbe es keine Chance mehr für Marla und mich.
    Ich erhielt keine Absolution, ich war nicht frei von meinen Taten und ihren Folgen. Meine Vergangenheit würde immer ein Teil von mir sein und ich immer vieles davon bereuen, doch jetzt wurde ein Vorhang davor gezogen, durch den ich sie zwar immer noch sah, aber in gedämpften Farben und so sehr abgemildert, dass die Schrecken von einst sich nicht mehr ganz so verheerend auf die Gegenwart auswirkten.
    Vielleicht war das nicht von Dauer. Vielleicht würden meine Schuldgefühle mich wieder einholen und dadurch das Leben aller, die mir nahestanden, in Stücke reißen. Aber im Augenblick stand ich darüber und hatte vor, diese Atempause so gründlich zu nutzen, wie es mir möglich war, um ein neues Leben mit Marla zu beginnen, in dem sie und ich wenigstens ein kleines Maß an Erfüllung erleben konnten. Irgendwann in der Zukunft. Irgendwann, wenn wir Glück hatten.
    Ich verließ den See in der Abenddämmerung. Inzwischen zogen Wolken über den Himmel, Wind kam auf. Millicents Datsun hatten sie abgeschleppt. Nichts deutete mehr darauf hin, wo er gestanden hatte, abgesehen von aufgewühlter Erde und einem Baum mit abgekratzter Rinde. Als ich die Ringstraße erreichte, rief ich Marla mit dem Handy an. Eine halbe Stunde später stieg ich in den Pick-up, und wir fuhren nach Hause – dicht aneinandergekuschelt, mit eingeschalteter Heizung. Und was immer wir dachten, behielten wir schweigend für uns.
    Mitte der darauffolgenden Woche rief Patterson an und teilte mir mit, dass der Leichnam meines Vaters keine entscheidenden Hinweise geliefert hätte. Die Tatsache, dass er im Anzug in dem See gefunden wurde, schien die Theorie eines Gewaltverbrechen zu stützen, doch weder die Verletzung an seinem Hinterkopf, die sie fanden, noch etwas anderes an seiner Person ließ Rückschlüsse darauf zu, was genau vorgefallen sein könnte. Eine Befragung von David, als dem einzigen dauerhaften Bewohner am See, lieferte ebenfalls keine stichhaltigen Informationen. Patterson versicherte mir, es täte ihm leid, aber sie gingen nicht davon aus, dass sich in der Sache noch irgendetwas Neues ergeben würde.
    Zwei Tage später, am Morgen, begruben wir Stan und Rosie und meinen Vater.
    Am nächsten Tag bedeckte Schnee den Boden von Empty Mile.
    Und am Tag danach schlossen Marla und ich die Blockhütte ab, stiegen in den Pick-up ein und verließen Oakridge in Richtung Osten.

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    Ein riesiges Dankeschön gilt Catherine und Andrea, die mir in entscheidenden Stunden ein Bett, einen Schreibtisch und Essen zur Verfügung gestellt haben – ohne diesen Aufenthalt im Paradies wäre dieses Buch sicher nie vollendet worden.

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    Matthew Stokoe, 1959 in England geboren, verbrachte sein bisheriges Leben zwischen England, den USA , Neuseeland und Australien. Er ist der Autor von drei Romanen und dem Drehbuch zu einem Kurzfilm. Bei Arche erschien zuletzt »High Life«, »die düstere Westküsten-Variante von ›American Psycho‹« (Kolja Mensing, »Der Tagesspiegel«). Matthew Stokoe lebt in einem Vorort von Sydney.
     
    Joachim Körber, Jahrgang 1958 , arbeitet als Übersetzer und Verleger und hat neben Werken von Dan Simmons und Stephen King auch William Gays bei Arche
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