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Empty Mile

Empty Mile

Titel: Empty Mile
Autoren: Matthew Stokoe
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Vater.«
    Und so wurde ein langer Tag noch länger. Patterson musste hinzugerufen werden. Ich musste ihm erklären, warum ich so sicher war, dass es sich um meinen Vater handelte – dass ich es an der Kleidung und seiner Uhr sah –, dass ich nichts weiter zu dem Fall zu sagen hätte, dass es reiner Zufall war, ihn hier zu finden, soweit es mich betraf, und schließlich, als man mir die Frage stellte, dass ich nicht der Meinung wäre, dass, da Stan Gareth getötet hatte, einer der beiden für den Tod meines Vaters verantwortlich sein könnte.
    Patterson sagte, sie müssten den Leichnam meines Vaters nach Burton in die Obduktion bringen, um die Todesursache festzustellen und zu prüfen, ob es forensische Hinweise gab. Doch er sagte mir auch, ich solle nicht allzu sehr darauf vertrauen, dass sie angesichts der langen Zeit im Wasser etwas finden würden, das zu neuen Erkenntnissen in dem Fall führte.
    Sie ließen mich einen Moment mit dem Leichnam allein. Die Monate unter Wasser hatten die Gesichtszüge wegerodiert, zurückblieb ein verquollener Ballon, der kaum noch menschliche Züge aufwies. Es war ein schockierender Anblick, doch meine eigene Ambivalenz schockte mich noch mehr. Der Anblick des Leichnams meines Vaters hätte mich mit Trauer erfüllen müssen. Doch dem war nicht so. Als ich die triefende Masse betrachtete, verspürte ich nur eine verwirrte Leere, als handelte es sich nicht um den Leichnam meines Vaters, sondern den einer unbekannten Person, der ich vor langer Zeit einmal zufällig auf der Straße begegnet war. Ich fragte mich, wie es möglich war, dass ein Sohn so über seinen Vater dachte. Aber ich wusste es. Ich wusste es.
    Um vier Uhr war am See alles vorbei. Der Krankenwagen hatte alle Leichen abtransportiert, die Taucher hatten zusammengepackt und waren abgerückt, Patterson kehrte in die Stadt zurück, um den Papierkram in Angriff zu nehmen. Die beiden Uniformierten gingen als Letzte. Sie schlenderten ein paar Minuten am Strand entlang und sammelten Abfall ein, den die anderen Männer zurückgelassen hatten, dann kam einer zu mir und fragte mich, wohin sie mich fahren sollten. Ich wollte seit Stunden nur fort, weg von diesem Ort, doch jetzt schien mir, als könnte ich nicht gehen, ohne mich von der Stelle zu verabschieden, wo die Schuldgefühle wegen meines Bruders ihren Anfang nahmen und all meine Versuche, etwas dagegen zu tun, ihr Ende fanden.
    Ich sagte dem Polizisten, ich würde allein nach Hause kommen. Er sah mich einen Moment zweifelnd an, dann beugte er sich in den Kofferraum des Streifenwagens und gab mir eine wärmende Decke.
    »Bleiben Sie nicht zu lange hier, heute Nacht wird es kalt.«
    Er winkte mir noch einmal zu, dann fuhr der Streifenwagen weg.
    Ich sah zu dem Bungalow, wo Gareth gewohnt hatte. Rauch stieg aus dem Kamin auf; ich wusste, David hielt sich dort auf – allein mit der Trauer um seinen Sohn. Ich überlegte, ob ich zu ihm gehen sollte, hatte aber mehr als genug eigenen Schmerz zu verarbeiten. Ich setzte mich auf den Grünstreifen und wickelte die Thermodecke um mich.
    Es würde keine Stunde mehr dauern, bis die Sonne hinter den Bergen versank. Der See war bereits in Dämmer gehüllt, kleine Insekten kamen heraus und standen zitternd in Ufernähe auf der Oberfläche des Wassers. Plötzlich schien mir, als wäre mir immerzu kalt gewesen, auch jetzt noch, trotz der Decke. Ich zog sie höher, über den Kopf. So verharrte ich und ließ den Blick über den See schweifen.
    Vor acht Jahren hatte ich Oakridge in der Hoffnung verlassen, ich könnte den Schuldgefühlen davonlaufen, die ich empfand, weil Stan beinahe ertrunken wäre, doch sie wurden nicht schwächer, sondern verstärkten sich noch, denn es kamen nun die Schuldgefühle hinzu, dass ich Stan verlassen, ihn der Fürsorge eines emotional verkrüppelten Vaters überantwortet hatte. Und später kamen noch mehr Schuldgefühle dazu, als mir klar wurde, was ich Marla mit meiner Abreise angetan hatte.
    In diesen acht Jahren hätte ich eigentlich lernen müssen, dass man Schuld weder abarbeiten noch ihr entfliehen kann. Aber ich tat es nicht, und am Ende trieb mich der verzweifelte Wunsch, die Schuld endlich loszuwerden, in meine Heimatstadt zurück. Ich gab mir alle Mühe, mit Stan, mit Marla. Ich wollte die Gegenwart zwingen, die Fehler der Vergangenheit wieder wettzumachen. Ich gab mir wirklich Mühe. Doch es nützte nichts.
    Stan war der Überzeugung gewesen, dass das Leben sich seiner annehmen würde. Und auch wenn
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