Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Empty Mile

Empty Mile

Titel: Empty Mile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthew Stokoe
Vom Netzwerk:
noch ziemlich voll. Aber wir fanden ein lauschiges Plätzchen am südlichen Ende des Sees, rund zwanzig Meter von einer Stelle entfernt, wo der Strand an Felsen endete, die ein Stück weiter in dichten Wald übergingen. Wir breiteten unsere Handtücher aus und stürzten uns ins Wasser.
    Ich habe ein ganz bestimmtes Bild von diesem Tag vor Augen. Bruchstückhafte Impressionen im Wasser ziehen an mir vorbei wie Sonnenlicht durch die Fenster eines fahrenden Zuges. Und sonnig ist es. Alles erstrahlt in gleißender Helligkeit. Licht durchdringt die Gischt, die wir aufwirbeln, überzieht die Oberfläche des Sees mit langen Schnörkeln und Bögen, macht die nasse Haut unserer Körper straff und lebendig und wunderschön. Ich sehe das Licht auf Stans glattem, schwarzem Haar, sehe seine weiß aufblitzenden Zähne und die Tröpfchen auf seinen Wimpern, die in Diamanten verwandelt worden sind, während er im hüfthohen Wasser auf und ab springt und zusieht, wie die Flüssigkeit in einem Schauer schwerer Tropfen zerschellt, in denen sich alle Farben dieser Welt spiegeln, während er ruft: »He, Johnny! He, Johnny! Guck mal!«
    Ich wünschte, diese Bilder wären meine einzige Erinnerung. Ich wünschte, ein Teil von mir wäre so gnädig gewesen, nur diese festzuhalten. Doch es gibt ein weiteres Bild, das sich langsam über diese funkelnde Kavalkade schiebt, zu der mein Blick immer und immer wieder wanderte in jenen letzten sorglosen und verspielten Momenten, die wir zusammen erlebten – der Anblick von Marlas Rücken. Flach und glatt, biegsam, wenn er sich um die Achse der Wirbelsäule dreht; die Spange ihres Büstenhalters, das elastische Band ihrer Bikinihose, das eine zarte Linie in ihre Hüften einprägt, wenn sie aus dem Wasser springt und Stan nass spritzt. Und ich bin hinter ihr und beobachte sie, ganz aufgeregt, weil ich etwas weiß, das mir in diesem Augenblick zur Gewissheit geworden ist –
dass
ich diesen Körper mit den Händen berühren,
dass
ich diese Spange öffnen,
dass
ich den elastischen Bund ihres Bikinis mit den Daumen von ihrem Körper wegdrücken und die Hose über ihre Hüften und Schenkel nach unten schieben werde …
    Die Frage, die uns beide beschäftigt, ist in diesem Moment bereits beantwortet; es gilt wirklich nur noch abzuwarten.
    Ach, dieses Bild … dieses Wissen. Es hätte ein sonnenfunkelndes Kleinod von einer Erinnerung sein sollen, eine olympische Fackel des Herzens, die den langen Tunnel der Vergangenheit heraufleuchtet. Doch heute, wie in all den Jahren seither, ist das Bild von Marlas Rücken nicht mehr so sehr der Inbegriff ihrer Schönheit und meines Verlangens nach ihr, sondern das Porträt meiner eigenen, grässlichen Selbstbezogenheit.
    Hinterher lagen wir nebeneinander in der Sonne und sogen die Hitze auf wie eine einzige organische Batterie. Mein Schenkel berührte den von Marla, und das Blut pochte gegen die Barrieren unserer Haut, bis wir nicht mehr so tun konnten, als wüssten wir nicht, weswegen wir hierhergekommen waren.
    Ich sagte Stan, dass Marla und ich einen Spaziergang im Wald machen würden. Natürlich wollte er mitkommen, und als ich ihm sagte, dass er bleiben und unsere Sachen bewachen müsste, gab er ein resigniertes Schnauben von sich. Aber er wirkte ganz unbeschwert, wälzte sich auf den Bauch und zog ein Buch aus der Tasche. Bevor ich ging, betrachtete ich noch seinen knochigen Rücken. Stan war ein kluges Kind, so klug, dass er in der Schule eine Klasse übersprungen hatte; mit seinem erstaunlichen IQ meisterte er fast alle Herausforderungen des Lebens mit Bravour, doch er war ein miserabler Schwimmer, und auch wenn er das Wasser liebte, brachte er wenig mehr als ein Hundepaddeln zustande.
    »Du brauchst Sonnencreme.«
    »Ja, gleich.«
    »Und vergiss nicht, geh nicht ins Wasser, klar?«
    »Klar.«
    »Versprochen?«
    »Ja, Johnny, ich hab’s kapiert. Nicht ins Wasser gehen.«
    Marla und ich schlenderten beiläufig über den Sand, doch kaum schirmte der Wald uns ab, legte sie die Hand in meine, und wir rannten. Wir hatten keine Ahnung, wohin wir liefen, wir wussten aber, was wir suchten. Zwischen den Bäumen wuchs Gras auf dem weichen Boden; leuchtende Flecken zeigten, wo Sonnenlicht durch den Baldachin des Laubs hereinfiel. Außerhalb dieser strahlenden Inseln war der Wald kühl und schattig, streiften Grashalme kalt unsere Beine.
    Mehrere Hundert Meter vom See entfernt fanden wir eine Grasfläche in einem Kegel aus Sonnenlicht. In deren Mitte blieben wir stehen,

Weitere Kostenlose Bücher