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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein
Autoren: Stewart O'Nan
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vorbeikamen, entkernt und luxussaniert, ein Werbeplakat für Eigentumswohnungen an der Fassade, «hast du schon gehört, wie viel sie da für eine Einzimmerwohnung verlangen?»
    «Wie viel?»
    «1,2 Millionen.»
    «Das ist ja Wucher. Wer will für eine Wohnung in East Liberty schon so viel Geld bezahlen?»
    «Die Gegend wird jetzt Eastside genannt.»
    «Von wem? Von niemandem, den ich kenne. Die reinste Geldverschwendung.»
    Abgesehen von dem Gierfaktor hatte sie nichts gegen die Eigentumswohnungen. Besser, als das Gebäude leer stehen zu lassen. Das wirklich Traurige war, dass man, als die Fabrik noch lief, im Sommer wie im Winter selbst bei geschlossenem Fenster riechen konnte, dass dort gebacken wurde. Sie hatten Ritz Cracker hergestellt, und der warme Buttergeruch hatte das Gebäude wie eine Wolke umhüllt. Im Frühling, wenn das Arts Center im französischen Garten auf dem Plateau des Mellon Parks seine alljährliche Spendengala veranstaltete, konnte man mit seiner Limonade in der Hand über den von Wegen durchschnittenen, langgezogenen Hang und die Fifth Avenue blicken, über die Tennishalle, den Spielplatz und die fernen Felder hinweg, konnte aus der Fabrik Rauch aufsteigen sehen und die Luft geradezu schmecken. Wie alle Pittsburgher hatte Emily das Gefühl gehabt, die Fabrik würde ihr gehören, als hätte sie die Cracker selbst hergestellt, und sie bedauerte, dass es Nabisco nicht mehr gab.
    In der Stadt war so vieles verschwunden, aber diese Sehnsucht war auch ein Teil von ihr. Da sie aus der Provinz stammte, hatte sie ihr neues Zuhause von Anfang an mit dem Blick einer Außenstehenden betrachtet und alles Sehenswerte zu schätzen gewusst, das ein Einheimischer wie Henry als selbstverständlich oder banal empfand. Obwohl sie schon fast sechzig Jahre hier lebte und den größten Teil ihres gesellschaftlichen Lebens mit ihren Freunden aus dem Country Club verbracht hatte, war sie im Grunde ihres Herzens immer noch eine Landpomeranze. Die gotische Cathedral of Learning kam ihr immer noch unglaublich hoch vor, die eichengetäfelten Räume mit den Steinkaminen erschienen ihr ungeheuer prunkvoll, zu schön für Studenten wie sie. Wenn sie ihre Enkelkinder zu einer Fahrt in der Standseilbahn mitnahm, war sie von dem Blick auf die Landspitze genauso ergriffen wie Ella oder Sam. Sie fuhr nicht deshalb mit Sarah und Justin auf dem Gateway Clipper zum Spiel der Pirates, weil Großmütter solche idyllischen Fahrten unternahmen oder weil sie es schon mit Margaret und Kenneth getan hatte, als sie in deren Alter waren, sondern weil Emily, wenn das nachgebaute Dampfschiff den zweifarbigen Zusammenfluss von Mon und Allegheny erreichte, sich vorstellen konnte, wie George Washington am Flussufer stand, die Stadt hinter ihm nicht mehr als ein aus Erde gebautes Fort im Urwald, ihre eigene Geschichte, wie die von Amerika, noch ungeschrieben. Als sie noch jung war, bedeutete die Stadt für sie eine neue Welt. Doch jetzt schien Emily sie Stück für Stück zu verlieren.
    Jede Straße triefte von Erinnerungen. Sie folgten der Penn Avenue, die als rote Linie zwischen Homewood und Point Breeze verlief, und fuhren an Mr. Fricks geliebtem Clayton vorbei, unantastbar hinter dem spitzen Eisenzaun. Auf dem Gelände gab es ein Cafe, in dem sie und Louise hin und wieder etwas gegessen hatten, und ein Gewächshaus mit spitzem Dach, das für die Allgemeinheit geöffnet war. Wie der Frick Park mit seinen urigen Waldwegen und malerischen Rasenflächen war es eine Oase, solange man nicht darüber nachdachte, woher das Geld stammte.
    Von der Penn in die Braddock Avenue und dann über die Forbes Avenue, an den Baseballfeldern vorbei, wo Kenneth immer gespielt hatte, nach Regent Square, Arlenes Viertel, inzwischen begehrt mit seinen scheckigen Platanen und den Ziegelsträßchen, die sich bis an die Senken des Parks zogen. Ruheständler und alte Jungfern mit festem Einkommen wie Arlene harrten in Zweifamilienhäusern und Bungalows aus den zwanziger Jahren aus, doch im Gegensatz zu East Liberty waren auch junge Familien hergezogen, die sich Point Breeze nicht mehr leisten konnten. Die kurze Einkaufsstraße an der Grenze zu Edgewood entwickelte sich gut. Das Kino zeigte eine Bergman-Retrospektive (Louise war verrückt nach Bergman gewesen, Henry hatte ihn langweilig gefunden), und Arlene deutete auf ein neues Slow-Food-Bistro, das einmal ein Grußkartenladen gewesen war.
    «Da gibt’s nur acht Tische.»
    «Klingt teuer», sagte Emily.
    «Es soll sehr
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