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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein
Autoren: Stewart O'Nan
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am Rahmen hängen, und dann drang kühle Luft herein, die sich im ganzen Erdgeschoss ausbreitete. Deshalb blieb Emily noch einen Augenblick auf der Treppe stehen, um sicherzugehen, dass er zuschnappte.
    Arlene war nicht weit genug hinaufgefahren, und Emily musste mit dem tückisch abfallenden Rasen und dem erhöhten Randstein fertigwerden, während sie sich mit der Beifahrertür abmühte. Sofort roch sie den Zigarettengestank, der von den Bezügen aufstieg, als hätte Arlene gerade erst geraucht. Emily schüttelte den Regenschirm aus, bevor sie ihn in den Wagen zog, und dennoch tropfte sie sich den ganzen Mantel voll.
    «Wie ich sehe, gehst du kein Risiko ein», sagte Arlene, die ihr Haar seit ein paar Jahren hennarot färbte, was Emily, genau wie Arlenes karmesinroten Lippenstift, zu grell und nicht altersgemäß fand. Ihre eigene Haarfarbe war zwar auch nicht natürlich, aber immerhin glaubwürdig: ein grau meliertes Mausbraun. In ihrem Alter gab es Grenzen des Tragbaren, vor allem musste es geschmackvoll bleiben.
    «Das hat fünfzig Dollar gekostet», sagte Emily, «da muss die Frisur bis Thanksgiving halten.»
    «Weiß Margaret schon, was sie macht?»
    Als Arlene zurücksetzte, reckte Emily den Hals, um zu sehen, ob irgendein Fahrzeug kam. Die Grafton Street war an dieser Stelle abschüssig, und bei dem Regen kam man nicht so schnell zum Stehen.
    «Auf meiner Seite ist alles frei», sagte Emily. «Seit unserem letzten Gespräch hat sie sich nicht mehr gemeldet, aber ich weiß, dass sie sich den Flug nicht leisten können.» Emily verschwieg, dass sie nicht einmal sicher war, ob Margaret einen Job hatte, und dass sie ihr jeden Monat einen Scheck schickte, damit sie die Hypothek abbezahlen konnte.
    «Und was ist mit Kenneth?»
    «Die fahren nach Cape Cod, zu Lisas Eltern.»
    «Da kannst du schwerlich mithalten.»
    «Wem sagst du das», erwiderte Emily. «Ich würde gern nach Cape Cod fliegen, aber das kommt nicht ernsthaft in Betracht.»
    «Stimmt.»
    «Wenn ich bereit wäre, neunhundert Dollar für ein Flugticket hinzublättern, könnte ich’s tun. Hätte Lisa rechtzeitig Bescheid gesagt, wäre es vielleicht machbar gewesen, aber so läuft das bei ihr nicht.»
    «Schade.»
    «Ist ja nichts Neues.»
    «Tja», sagte Arlene betroffen, als könnte das Emily trösten.
    Sie fuhren am Haus der Pickerings vorbei und erreichten das Stoppschild an der Highland Avenue. Emily schwieg, während Arlene auf eine Lücke im Verkehr wartete. Auf WQED lief kaum hörbar das übliche ungestüme Vivaldistück. Im Lauf der Jahre hatte Emily an dieser Kreuzung jede Menge Unfälle erlebt - oder sie gehört: erst das entsetzliche Reifenquietschen und dann die kurze geräuschlose Verzögerung vor dem krachenden Aufprall. Die Highland Avenue war eben, breit und schnell, und wenn Emily durchs Haus streifte und Pflanzen abstaubte oder Zeitschriften aussortierte, wurde sie regelmäßig von der Sirene eines Streifenwagens oder einer Ambulanz vorn ans Fenster gelockt, um zu sehen, was diesmal passiert war. Bei den schlimmsten Unfällen waren ihre Nachbarn aus den Häusern geströmt und hatten sich auf dem Gehsteig gedrängt, um sich die Feuerwehrautos anzusehen und die Einrichtung einer Ampel zu diskutieren (auf keinen Fall, hatten Doug und Louise gesagt, das drücke die Grundstückspreise in den Keller).
    Hinter einem Bus tat sich eine Lücke auf, doch Arlene zögerte.
    «Hast du das mit dem Busfahrer in Wilkinsburg gehört?», fragte sie und wandte Emily den Kopf zu.
    «Nein», sagte Emily und deutete auf die Straße.
    Als sich wieder eine Lücke auftat, bog Arlene betulich in die größere Straße.
    «Kam heute früh auf KDKA. Dieser Fahrer, keine Ahnung, was er sich dabei gedacht hat. Er hat seinen Bus mit laufendem Motor vor einem McDonald’s stehen lassen, und irgendjemand ist damit abgehauen. Sie haben den Bus auf der North Side gefunden, direkt hinter dem Heinz Field.»
    «Vielleicht war’s einer von den Steelers», mutmaßte Emily, denn die hatten ein paarmal Ärger mit der Polizei gehabt.
    «Kannst du dir das vorstellen: Du kommst mit einem Egg McMuffin nach draußen, und dein Bus ist weg?»
    Emily betrachtete das als rhetorische Frage und musterte im Vorbeifahren die imposanten Backsteinhäuser entlang der Highland Avenue, die mit ihren Säulenportiken und den vielen Schornsteinen eine Hinterlassenschaft des einstigen Reichtums der Stadt waren. Sie thronten hoch über der Straße, jedes mit einer großen Rasenfläche und
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