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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein
Autoren: Stewart O'Nan
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bogenförmigen Zufahrt, von der öffentlichen Straße durch schmiedeeiserne Tore und schwarze Granitmauern getrennt, die auch einem Friedhof gut angestanden hätten. Als junge Frau aus einem so rückständigen Nest wie Kersey hatte sie diese Herrenhäuser verlockend gefunden, aber verglichen mit dem Fricks’ Clayton, dem Mellon House oder den Kalksteinmonstrositäten an der Fifth Avenue wirkten sie ziemlich bescheiden. Henry hatte diesbezüglich eher praktisch gedacht. Das Haus in der Grafton Street war ihnen nie zu groß oder zu klein gewesen. Auch als die Kinder nicht mehr da waren, konnten sie und Henry es ausfüllen.
    Sie dachte an Rufus, der es sich bestimmt unter dem Esszimmertisch gemütlich gemacht oder sich neben das Warmluftgitter beim Geschirrschrank gelegt hatte. Wenn die Sonne vormittags durch die in den Garten führende Verandatür fiel und ein Teppichstück beleuchtete, das ungefähr so groß war wie Rufus, war über seiner schlafenden Gestalt eine Galaxie schwebender Staubkörner zu sehen. Manchmal musste sie sich vergewissern, dass er noch atmete. Sie wünschte, sie könnte es ihm gleichtun und einfach den Tag vertrödeln. Der graue Himmel, die Bäume, die Straße - für die nächsten fünf Monate stellte der Winter von Pittsburgh nichts Besseres in Aussicht. Sie verstand, warum Leute in ihrem Alter nach Florida flüchteten.
    «Dann sind also nur wir zwei alten Hühner da?», fragte Arlene.
    «So ist es», sagte Emily.
    «Willst du in den Club, oder sollen wir was anderes unternehmen?»
    «Hast du irgendwelche Vorschläge?»
    «Wann müssten wir denn reservieren?»
    «Bald», erwiderte Emily und dachte daran, wie sie einmal an Margarets Geburtstag dort gegessen hatten. Das musste schon fünfundvierzig Jahre zurückliegen, denn Margaret war damals in ihrem Trägerkleid schlank wie eine Ballerina gewesen und hatte spaßeshalber vor allen Leuten einen Knicks gemacht. Ausnahmsweise waren Emilys Eltern dabei gewesen, ihr Vater unbeholfen in seinem billigen braunen Anzug, beeindruckt von den hohen Fenstern und den Deckengemälden im Ballsaal, von den weiß behandschuhten Kellnern, die von Tisch zu Tisch gingen, um eisgekühlte Butterstücke mit aufgeprägtem Clubwappen zu bringen. Emily hatte bestimmt Margarets Lieblingsspeise bestellt - gelben Kuchen mit Schokoladenglasur -, und Henry hatte per Unterschrift bezahlt. Fünfundvierzig Jahre.
    Emily konnte die Bilder nicht verscheuchen, obwohl sie es gern getan hätte. Sie quälten sie wie eine Migräne, machten sie hilflos und unzufrieden, als wäre ihr eigenes Leben und das der Menschen, die sie geliebt hatte, im Sande verlaufen, nur weil jene Zeit vorbei war, weil sie sogar aus ihrem Gedächtnis schwand und von dieser tristen Gegenwart ersetzt wurde. Wenn es ihr wie eine andere Welt vorkam, dann deshalb, weil es so war, und all ihre Sehnsucht konnte diese Welt nicht zurückbringen.
    Als sie sich East Liberty näherten, wurden die Häuser immer schäbiger - durchhängende Veranden, mit Brettern vernagelte Fenster, graffitibesprühte Wände. Die Gärten und Gehsteige waren mit Müll übersät, und an jeder Kreuzung drängten sich die Wahlplakate der letzten Woche zu Hexenringen zusammen, Gewinner und Verlierer gleichermaßen vom Regen durchnässt. Arlene hatte die Heizung voll aufgedreht. Sie funktionierte nur stotternd, weil ein Blatt im Gebläse steckte, doch Arlene schien es nicht zu bemerken.
    «Könnten wir vielleicht die Heizung ein bisschen runterdrehen?», fragte Emily. «Mir ist furchtbar heiß.»
    «Ist das dein Ernst?», wollte Arlene wissen. «Ich friere schon den ganzen Morgen.»
    «Du brauchst wahrscheinlich bloß was zu essen.»
    «Ich hab Kaffee getrunken. Scheint nichts genützt zu haben.»
    Arlene beklagte sich gern über ihren niedrigen Blutdruck, doch Emily hatte manchmal das Gefühl, sie sei geradezu stolz darauf, als wäre es etwas Besonderes, das nur auserwählten Menschen zu schaffen mache. Um sich keinen Vortrag anhören zu müssen, schloss Emily ihren Lüftungsschlitz, zog die Handschuhe aus, löste die Regenhaube, öffnete den obersten Knopf ihres Mantels und nahm den Schal ab. Gleichsam als Zugeständnis stellte Arlene das Gebläse eine Stufe niedriger.
    «So besser?», fragte sie.
    «Danke.»
    Sie fuhren an der modernisierten Fassade der Peabody Highschool vorbei, die zu Henrys Schulzeit nur Weiße besucht hatten. Obwohl es schon nach neun Uhr war, prügelten ein paar barhäuptige Jungen neben einem Bushäuschen lachend mit
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