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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein
Autoren: Stewart O'Nan
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hatte etwas weiter den Hügel hinauf bei Union Signal gearbeitet, bis die Fabrik geschlossen wurde; jetzt gehörte er dem Sicherheitsdienst des Gateway Centers in der Innenstadt an. Ihr Sohn hatte für die Central Catholic Highschool Basketball gespielt und war dann aufs Providence College gegangen. Emily konnte sich gerade nicht erinnern, wo er war oder was er machte, obwohl Sandy es ihr schon oft erzählt hatte. Eine weitere Gefahr des Altwerdens.
    «Und wie geht’s Ihnen heut?», fragte Sandy, stellte klirrend zwei Becher auf den Tisch und goss ihnen, ohne zu fragen, Kaffee ein.
    «Danke, gut», sagte Emily und reichte ihr den Gutschein, den Sandy in ihre Schürze gleiten ließ. «Was macht Stephen?»
    «Dem geht’s gut, danke.»
    «Kommt er an Thanksgiving nach Hause?»
    «Wir fliegen fürs ganze Wochenende rüber», erwiderte Sandy und deutete mit dem Daumen über die Schulter, als stünde Stephens Haus direkt vor der Tür.
    «Das ist schön», sagte Arlene.
    «Ja, gut, diesem Wetter mal zu entkommen. Möchte eine von Ihnen Orangensaft haben?»
    «Nein, danke.»
    «Okay, bedienen Sie sich. Sie kennen sich ja aus.»
    «Tun wir», bestätigte Emily.
    «Jetzt geht’s mir besser», sagte Arlene, als Sandy weg war. «Der Kaffee hilft. Weißt du, was ich gern unternehmen würde, wenn Sarah und Justin da sind?»
    «Was denn?» Warum konnte Arlene nicht davon aufhören? Emily hatte ihr doch gerade gesagt, dass noch nicht klar war, ob sie kamen. Sarah war inzwischen mit dem College fertig und arbeitete, und vielleicht würde sie nicht freibekommen.
    «Ich würde gern mit den beiden in Panther Hollow Schlittschuh laufen. Dort hatten wir immer so viel Spaß.»
    «Wenn der Teich zugefroren ist. Ist er aber vielleicht noch nicht.»
    «Hoffentlich doch.»
    Es sah Arlene ähnlich, Emilys empfindlichste Punkte zu treffen - ihr nicht nur die Aussicht auf den Besuch der Enkelkinder, sondern auch jene lange zurückliegenden Abende ins Gedächtnis zu rufen, an denen Emily und Henry mit seinen Verbindungsbrüdern und deren Freundinnen Schlittschuh gelaufen waren und später, wenn sie am Feuer saßen, Hot Toddys getrunken hatten, der Wald ringsum dunkel, die Sterne am Himmel hell und klar. Den Teich, die Senke und die Sterne gab es immer noch. Nur Henry war nicht mehr da.
    «Sieht aus, als hätten sie den leckeren Corned-Beef-Eintopf», sagte Arlene. «Oh, gut.»
    Sie warteten, bis sich die Schlange aufgelöst hatte. Manchmal waren die Teller kochend heiß, frisch aus der Küche, doch heute hatten sie Zimmertemperatur. Der, den Emily vom Stapel nahm, war noch feucht. Statt ihn von jemandem trocken wischen zu lassen, hielt sie ihn schräg und ließ die Tropfen auf den Teppichboden rinnen. Arlene nahm wie immer einen Salatteller, als hätte sie gar keinen Hunger.
    Das Buffet sah auf beiden Seiten gleich aus, eine Reihe identischer Speisenwärmer, angefangen mit Zucker- und Honigmelonenscheiben, Bananen und halbierten Orangen, Ananasstücken aus der Dose und Pfirsichen im eigenen Saft, Hüttenkäse und Apfelmus, drei pastellfarbenen Joghurtsorten, einem Tablett voll Muffins und Plundergebäck, mehreren Brotsorten, von denen man sich eine Scheibe abschneiden und sie auf einer Art Fließband toasten lassen konnte, an dessen Ende Schalen mit Butter, Margarine und Frischkäse warteten, dann blubbernde Töpfe mit echtem Hafer- und Grießbrei, gefolgt von kleinen Cornflakes-Schachteln und den dazugehörigen Karaffen mit Mager-, fettarmer und Vollmilch und schließlich die dampfenden Berge von Belgischen Waffeln, Pfannkuchen, Rührei, Würstchen und Bratkartoffeln - und all das unablässig wieder aufgefüllt. Es war nicht gerade Gourmetkost, aber das machte Emily nichts aus. Sie konnte in vielen Dingen ein Snob sein - Lisa würde sagen, in allen -, doch zu diesem Preis war es schon ein Luxus, nicht kochen zu müssen.
    «Ich sollte vielleicht zweimal gehen», sagte Arlene auf der anderen Seite des Niesschutzes, auf ihrem Teller bereits eine Riesenportion.
    «Ich verstehe nicht, warum du nicht einfach einen normalen Teller benutzen kannst», erwiderte Emily.
    «Ich will nicht nooooh ahhhhh laaah», sagte Arlene, als wollte sie sich über sie lustig machen oder als würde Emily plötzlich schlecht hören. Emily blickte von dem Gebäckstück auf, das sie gerade mit einer Zange packte. Arlene starrte sie bestürzt an, als hätte ihr jemand ein Messer in den Rücken gestoßen. Ihre Augen quollen hervor, der Blick war auf etwas Unsichtbares
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