Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein
Autoren: Stewart O'Nan
Vom Netzwerk:
ihren Rucksäcken aufeinander ein. Emily fragte sich, ob ihre Mütter wohl wussten, dass sie die Schule schwänzten.
    «Hast du das Licht an?», fragte sie, weil die entgegenkommenden Autos die Scheinwerfer eingeschaltet hatten. «Ja, hab ich.»
    «Ich habe doch bloß gefragt.»
    «Und ich habe bloß geantwortet.»
    Sie konnte sich nicht an das hässliche orangefarbene Home Depot gewöhnen, das den Platz des hässlichen blauen Sears eingenommen hatte. Als junge Mutter hatte sie mit den Kindern dort Kleidung gekauft und Weihnachtsgeschenke besorgt. Margaret war ganz wild auf die Parfümproben und die Schmucktheke gewesen, und Kenneth hatten die Aufzüge, die Wand aus Tropenfischen und der Schlüsseldienst fasziniert. Henry hatte dort sein gesamtes Werkzeug erstanden. Seine Schraubenzieher, Schraubenschlüssel und Zangen hingen noch immer, nach Größe geordnet, ordentlich aufgereiht im Keller und hatten ihre lebenslange Garantie erfüllt. Das Home Depot gab es schon seit zehn Jahren, doch sie hatte es kein einziges Mal betreten. Die Gegend hatte sich verändert. Nicht dass es gefährlich war, zumindest nicht tagsüber. Hier war sie vermutlich schon eine Ewigkeit nicht mehr zu Fuß unterwegs gewesen.
    «Guck dir das mal an», sagte Arlene und deutete auf den Geländewagen, der sie rechts überholte. Der Fahrer, ein junger Schwarzer mit dünnem Bart und zerdrücktem Afrolook, telefonierte mit einem Handy. «Und du findest mich schlimm.»
    «Bist du auch», sagte Emily.
    «Wenigstens telefoniere ich nicht.»
    «Wen solltest du schon anrufen - etwa mich?»
    «Ja», sagte Arlene. «Ich würde dich auffordern, dir eine andere Fahrgelegenheit zu suchen.»
    «Eins zu null für dich.»
    Und als wollte sie Emily auf die Probe stellen, drosselte Arlene das Tempo und bog in den Penn Circle ein, den grauenhaftesten Teil der Fahrt. Ende der sechziger Jahre hatten die Stadtplaner zur Umgehung der Fußgängerzone, die sie ins Herz von East Liberty geschnitten hatten, einen riesigen fünfspurigen Kreisel mit einem Durchmesser von achthundert Metern entworfen, der den Verkehr von den Hauptverkehrsadern und Zubringerstraßen aufnahm, die dort einmal aufeinandergetroffen waren, die Fahrzeuge im Kreis herumwirbelte und sie dann, ohne die Hilfe einer Ampel, in alle vier Richtungen ausspuckte. Der endlose Kreisbogen sollte eigentlich für eine angemessene Geschwindigkeit sorgen, doch herausgekommen war eine ebene Rennstrecke, auf der die Fahrer durch die Kurven preschten und im letzten Moment zu ihrer Ausfahrt hinüberschossen.
    Dieser Fahrstil lag Arlene nicht, und statt sich nahtlos in den Verkehrsfluss einzureihen, hielt sie am Vorfahrtsschild und wartete unglaublich lange, ehe sie in den Kreisel fuhr, schlich dann die rechte Spur entlang, während die anderen Autos raketengleich an ihr vorbeizischten und ihre Windschutzscheibe bespritzten, sodass sie die Scheibenwischer auf volle Kraft stellen musste. Arlene beugte sich übers Lenkrad und umklammerte es. In Erwartung eines Zusammenstoßes legte Emily die Hand aufs Armaturenbrett, aber da sie so langsam fuhren, bildete sich rasch eine Schlange von Autos, die hinter ihnen festsaßen und nicht auf die Innenspuren biegen konnten. Ein weißer Lieferwagen füllte das Heckfenster aus und ließ das Fernlicht aufblitzen.
    «Dann überhol doch endlich», schimpfte Arlene.
    Die Autos begannen zu hupen, ein penetranter Chor, der noch von einem langen, anhaltenden Ton übertroffen wurde. Ein Honda brauste vorbei, drängte sich direkt vor sie und zwang Arlene zu bremsen, bevor er wieder davonschoss.
    «Idiot», rief Arlene. «Fünf Spuren, und du musst ausgerechnet auf meiner sein.»
    Sie fuhr, als würde sie Scheuklappen tragen, und hielt ihre Position, nur auf die vor ihr liegende Straße konzentriert. Als sie von weiteren Autos überholt wurden, starrte auch Emily aus Angst vor dem, was sie zu sehen bekommen könnte, einfach geradeaus. Endlich überholte der Lieferwagen. Sie riskierte einen Blick zurück. Hinter ihnen war niemand mehr; sie waren allein. Arlene blinkte weit vor der Ausfahrt. Der Blinker klickte unaufhörlich, und Emily hätte am liebsten die Hand ausgestreckt und ihn ausgeschaltet.
    «Das macht doch jedes Mal Spaß», sagte Arlene, als sie den normalen Verkehr auf der Penn Avenue wieder erreicht hatten.
    «So gut hätte ich das nie hinbekommen», erwiderte Emily.
    «Ist es dir immer noch zu heiß?»
    «Nein.»
    «Ach», sagte Arlene, als sie an der ehemaligen Nabisco-Fabrik
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher