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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein
Autoren: Stewart O'Nan
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Arlenes Straße verlassen da. Sie lenkte den Taurus zu dem freien Platz vor Arlenes Wohnung und rollte so dicht an den Bordstein, wie sie sich traute. Na also, dachte sie und schaltete die Zündung aus, doch als sie den Schlüssel abziehen wollte, steckte er fest.
    Sie drückte ihn hinein, denn sie wusste, dass man das bei manchen Autos tun musste, aber es nützte nichts. Sie hatte ihre Mitgliedschaft im Automobilclub gekündigt und sah schon vor sich, wie sie hier festsaß und eine Werkstatt verständigen musste.
    Sie drehte den Schlüssel, als wollte sie den Wagen wieder anlassen. Nichts. Das ergab keinen Sinn, und sie kontrollierte den Schaltknüppel. Der kurze neonfarbene Pfeil zeigte auf D.
    «Du meine Güte.» Das war die Strafe für ihre Selbstzufriedenheit.
    Wegen Arlenes Sachen hatte sie keine Hand für den Regenschirm frei. Sie zurrte die Regenhaube fest und stapfte mit gesenktem Kopf die Treppe hinauf. Auf der Veranda musste sie alles auf einem Gartenstuhl ablegen, um den Schlüssel ins Schloss stecken zu können, dann alles wieder zusammenraffen und es eine weitere Treppe hinaufschleppen. Sie war außer Atem und dachte, Arlene könne von Glück sagen, dass sie nicht hier umgekippt war und sich das Genick gebrochen hatte.
    Oben machte das Treppenhaus einen Bogen, und es gab eine weitere Tür, die unverschlossen war und in einen engen Flur führte, durch den man zur Wohnung gelangte. Die Wohnung hatte eine seltsame Aufteilung, da sie früher wohl zu einem geräumigen Haus gehört hatte. Schon die Idee eines Zweifamilienhauses ging Emily gegen den Strich. Sie konnte sich nicht vorstellen, über jemandem zu wohnen, der jeden ihrer Schritte hörte. Sie wusste ihre Nachbarn zu schätzen, konnte sogar behaupten, dass sie Louise und Doug, Ginny und Gene Alford, Isabel und Ev Conroy, Dotty und Fred Engelmann, die ganze alte Clique, gemocht hatte, doch sie hätte nicht gewollt, dass sie jedem Schritt lauschten, den sie und Henry machten. Das war nur eine weitere Seite Arlenes, die sie nie verstehen würde.
    In der Wohnung war es dunkel und stank nach abgestandenem Zigarettenrauch. Die einzigen Lichtquellen waren die Fenster und das summende Aquarium, das in grellem Unterwassergrün neben dem sargähnlichen Baldwin-Klavier von Henrys Mutter leuchtete. An den Wänden, von der Düsternis gnädig verborgen, hingen die unbeholfenen, missratenen Stillleben, die Arlene für ihre Volkshochschulkurse gemalt hatte - gewissenhaft schattierte Äpfel, Birnen und Weinflaschen, die, statt dreidimensional zu wirken, so flach wie Höhlenmalereien blieben. Sie und Henry besaßen selbst eins mit mehreren pockennarbigen, perspektivisch gezeichneten Orangen, das in Henrys Arbeitszimmer verbannt worden war. Obwohl Emily mit niemandem so viel Zeit verbrachte wie mit Arlene, beschränkte sich ihre Geselligkeit auf das öffentliche Leben und bestand aus Verabredungen, festlichen Anlässen und Unterhaltung. Nur selten drangen sie in die Privatsphäre des anderen ein, und allein in Arlenes Allerheiligstem hermzuschleichen kam ihr wie eine Sünde vor. Sie fragte sich, ob Arlenes Nachbar wohl unten war und insgeheim jeden ihrer Schritte verfolgte.
    Sie benutzte die Küche als Basis, legte die Sachen auf den Tisch und hängte ihre Regenhaube über den Wasserhahn, ging dann durch die Zimmer und knipste überall das Licht an. In der Wohnung war es so ordentlich wie in einer Hotelsuite, alles abgeräumt und sauber gewischt, dabei kam Betty erst am Freitag. Da sie selbst einen endlosen Feldzug gegen die Unordnung führte, war Emily neidisch, doch zugleich hegte sie den Verdacht, dass diese Sauberkeit übertrieben, ja vielleicht sogar neurotisch war, ein Nebenprodukt des Umstands, dass Arlene, genau wie sie, nicht genug zu tun hatte.
    Das Schlafzimmer war ein Museum, alle Möbel Erbstücke. Als wären es Arlenes eigene Kinder, lehnten die vertrauten Schulfotos von Margaret und Kenneth mit ihren zotteligen Siebziger-Jahre-Frisuren in schweren Silberrahmen auf der Kirschbaumkommode. Davor standen, aufgereiht wie Schachfiguren, kleinere Bilder der Enkelkinder und, ungerahmt, die neuesten Weihnachtsfotos der beiden Familien, aber keine einzige Aufnahme von Emily.
    Sie fand Arlenes Buch auf dem Nachttisch - einen britischen Krimi, den Emily ihr geliehen hatte. Er lag auf einer kompakten Kunstlederbibel mit Goldschnitt, ein geknicktes Seidenband an der zuletzt aufgeschlagenen Stelle. Einen Augenblick dachte Emily, es sei Henrys Bibel, die sie für die
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