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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein
Autoren: Stewart O'Nan
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als sie. Sie ärgerte sich über den Zähler, und obwohl der Mann anbot, ihr mit Arlenes Sachen zu helfen, lehnte sie ab und gab ihm nur zehn Prozent Trinkgeld.
    «Du bist meine Rettung», sagte Arlene überschwänglich, als hätte sie die Sahara durchquert. Sie saß von Kissen gestützt da und sah sich dieselbe Seifenoper an wie ihre Bettnachbarin, das Tablett zur Seite geschoben, der Wackelpudding unangetastet. In zehn Minuten sollte sie zu irgendeiner Untersuchung abgeholt werden.
    «Du musst halb verhungert sein», sagte Arlene. «Du solltest dir was aus der Cafeteria holen.»
    Damit wollte sie Emily bitten zu bleiben, als wäre sie bloß kurz vorbeigekommen, um Arlenes Sachen abzuliefern. Emily hängte ihren Mantel auf, um zu zeigen, dass sie nirgends hinwollte. Sie half ihr mit dem Morgenrock und richtete dann den Stuhl so aus, dass sie beide fernsehen konnten.
    Sie setzte sich absichtlich so hin, dass sie die Verletzung an Arlenes Stirn nicht sehen konnte. Besonders beunruhigend fand sie, wie groß die Wunde war. Emily konnte sich vorstellen, dass alles heilte, doch es würde eine entstellende Narbe zurückbleiben, und sie musste wieder an Louise denken, an die langen Tage, an denen sie bis zum Ende der Besuchszeit in Erinnerungen geschwelgt und in dem kahlen Zimmer gelacht hatten, obwohl sie beide wussten, dass Louise nicht mehr nach Hause kommen würde. Sie fragte sich, ob Arlenes Versicherung eine Schönheitsoperation bezahlen würde oder ob in ihrem Alter so etwas nicht mehr in Erwägung gezogen wurde.
    «Hast du eine Ahnung, wer diese Leute sind?», fragte Arlene und deutete auf den Femseher.
    «Sie tragen ziemlich viel Schminke», sagte Emily. «Besonders die Männer.»
    Sie hatte Hunger, wartete aber, bis die Schwester Arlene geholt hatte, bevor sie mit dem Aufzug ins Erdgeschoss fuhr, doch letztlich fand sie ihren klebrigen Käsetoast und die lauwarme Tomatensuppe ungenießbar. Die Blumen im Geschenkartikelladen sahen lachhaft aus und hatten schon bessere Tage erlebt. Irgendwie würde sie es morgen zum Giant Eagle schaffen.
    Als sie nach oben kam, war Arlene noch nicht von der Untersuchung zurück. Emily trat ans Fenster und blickte auf ihr Reich hinab. Es war kurz vor vier, und der Himmel wurde allmählich dunkler. Rufus hatte bestimmt den Abfalleimer umgekippt, um sein Missfallen zum Ausdruck zu bringen. Emily kehrte zu ihrem Stuhl zurück und sah sich auf CNN die Nachrichten an, bis sie sich wiederholten. Aus Sorge, dass etwas passiert sein könnte, machte sie das Schwesternzimmer ausfindig, doch dort konnte man ihr nichts sagen. Sie kehrte zu ihrem Stuhl zurück, ging ans Fenster und setzte sich dann wieder auf den Stuhl, diesmal, um sich die Lokalnachrichten anzusehen, doch inzwischen spielte sie in Gedanken alle schrecklichen Möglichkeiten durch und konnte sich kaum noch konzentrieren.
    Als Arlene endlich wieder hereingeschoben wurde, war sie vom Beruhigungsmittel noch ganz benommen.
    «Wir sollten sie jetzt schlafen lassen», sagte die Schwester und zog die Vorhänge zu.
    Die Besuchszeit war um acht zu Ende. Sie empfahl Emily, nach Hause zu fahren und am nächsten Morgen wiederzukommen. «Ich denke, Sie hatten beide einen langen Tag.»
    Am liebsten wäre Emily geblieben, um da zu sein, wenn Arlene aufwachte, aber die Frau hatte recht, sie war ziemlich erschöpft. Sie nahm ein Taxi, saß bedrückt im Fond und gab dem Fahrer widerwillig ein Trinkgeld.
    Das Haus war dunkel, der Weg voller Pfützen. Die Sturmtür klemmte schon wieder. Kaum steckte sie im Lichtschein der Straßenlaterne den Schlüssel ins Schloss, fing Rufus an zu bellen. Als sie die Tür öffnete, drehte er sich auf dem Läufer immer wieder im Kreis, begrüßte sie mit flehentlichem Knurren und hüpfte, verzweifelt um ihre Aufmerksamkeit heischend, herum.
    «Ja», sagte Emily. «Ja. Alles ganz schön aufregend.»
     
    Die Rätsel des Gehirns
     
    Die Ärzte fanden nicht heraus, was Arlene fehlte. Es war nichts so Offensichtliches und Unheilvolles wie ein Schlaganfall oder ein Gehirntumor. In Ermangelung eines besseren Begriffs nannten sie es eine Episode, als könnten davon noch einige folgen. In ihrem Alter, gab Emily Arlenes Erklärung telefonisch an Margaret weiter, handle es sich wahrscheinlich um eine Verkettung verschiedener kleinerer Probleme. Zunächst einmal sei sie vermutlich dehydriert gewesen, was morgens bei ihr häufig vorkomme. Die Ärzte meinten auch, dass sie an niedrigem Blutzucker leide. Sie selbst fühle sich
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