Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein
Autoren: Stewart O'Nan
Vom Netzwerk:
Emily nichts, doch der ungezwungene Meinungsaustausch begeisterte sie, so wie sie sich beim Fahren wieder erstaunlich lebendig fühlte, als Teil eines größeren Zusammenhangs.
    In den Fluren herrschte stets reges Treiben. Wie auf einem Schiff lief im Krankenhaus alles nach einem strengen Zeitplan ab, und es gab immer etwas, worauf man sich freuen konnte. Die morgendliche Arznei, der Kaffeewagen, die Vitalwerte - jede Unterbrechung war genau geplant und wurde auf einer Tabelle eingetragen.
    Das Essen traf rechtzeitig zu den Mittagsnachrichten ein. Wie das Personal mied Emily inzwischen die Cafeteria und ging um die Ecke zu einem Sandwichladen, wo man auch selbstgemachte Suppen bekam. Die Sandwiches waren so groß, dass sie und Arlene sich eins teilen konnten. Manchmal musste sie das, was von ihrer Hälfte übrig blieb, in eine Serviette wickeln und mit nach Hause nehmen, um es nicht verderben zu lassen.
    Nach dem Mittagessen schaute sie sich Arlenes Seifenopern an, oder Arlene sah fern, während Emily neben ihr las, hin und wieder von ihrem Buch aufblickte und sich der Szene auf dem Bildschirm widmete, bis sie merkte, dass der Fernseher ihre Aufmerksamkeit an sich gerissen hatte. Das Ganze war nicht unangenehm, nur verwirrend, da die beiden Geschichten miteinander verschmolzen, bis keine mehr einen Sinn ergab. Arlene war voll bei der Sache und redete mit den Schauspielern. «Tu’s nicht», sagte sie. «Sie lügt.» Das erinnerte Emily daran, wie Henry Gespräche mit seinen Baseballspielen geführt und den Trainer der Pirates aufgefordert hatte, mal einen abtropfenden Ball einzuschieben oder den Pitcher auszuwechseln. So etwas war ihr nie eingefallen, sie hatte sich immer damit zufriedengegeben, sich zurückzulehnen und alles schweigend anzusehen, aber jetzt unterstützte sie Arlene aus purem Vergnügen oder steuerte ihre eigene unmaßgebliche Meinung bei, obwohl sie oft falsch lag, da sie die verwickelte Hintergrundgeschichte nicht kannte.
    «Den mag ich nicht.»
    «Wen?»
    «Den mit dem Schnurrbart.»
    «Das ist einer von den Guten.»
    «Bist du sicher? Mir gefällt nicht, wie er aussieht.»
    «Er hat mal zu den Bösen gehört, hat sich aber geändert.»
    «Dann könnte er unterschwellig immer noch böse sein.»
    «Nein. Sei jetzt still. Ich will das hören.»
    All My Children, Springfield Story, Liebe, Lüge Leidenschaft. Die Leute kamen Emily alle gleich vor, kunstvoll frisiert und mit ausgezeichneten Zähnen gesegnet, ein völlig anderer Menschenschlag als die Leute in den grotesken Talkshows, die darauf folgten.
    Durchs Fenster sah sie, wie sich Wolken über die Brücke und den dahinter liegenden Herron Hill, ja über die ganze Stadt breiteten. Die Autos hatten Scheinwerfer und Scheibenwischer eingeschaltet. Es war jene graue Zeit, kurz bevor die Schulbusse kamen, die Zeit, in der sich Emily ihrer Trägheit besonders bewusst war, ihr Leben keine dringende oder notwendige Angelegenheit mehr. Zu Hause würde sie mit hochgelegten Füßen in Henrys Sessel sitzen, ihr Buch lesen, leiser Musik lauschen und spüren, wie sie allmählich der Schlaf überkam. Vielleicht würde sie sich eine Tasse Tee aufbrühen und an einem Keks knabbern, um Energie zu tanken, oder sie würde sich der Trübseligkeit ergeben, die Musik ausschalten und nach oben gehen. Rufus würde sie erwarten und sich in sein Bett am Kamin kuscheln, bevor sie ihre Schuhe auszog und sich unter die Bettdecke legte. Oben war es wärmer, und die Leselampe an der Wand hinter ihr würde einen behaglichen gelben Lichtschein auf die Seiten werfen. Rufus würde ächzen. An dem Radio auf ihrem Nachttisch war ebenfalls QED eingestellt, sodass sie zwangsläufig eindösen würde, während die Musik von Corelli oder Telemann melodisch neben ihr dahinpreschte und sie nur noch verwirrter in die Welt zurückkehren und beim Geschwafel der Nachrichten aufwachen würde, die Fenster inzwischen dunkel.
    Jetzt verwendete sie die restliche Zeit ihrer Nachmittage auf ihre unerledigten Aufgaben. Sie vergewisserte sich, dass Arlene alles hatte, was sie brauchte, verabschiedete sich von ihr, Thalia, Jean und den jungen Frauen im Schwesternzimmer, trotzte den Böen auf dem Weg zum Wagen und plante bereits, wo sie überall noch hinmusste. Arlene hatte kaum noch Fischfutter, deshalb musste Emily einen Umweg durch Squirrel Hill machen. Sie warf die Namen der Fische immer noch durcheinander, doch inzwischen machte es ihr Spaß zu beobachten, wie sich alle auf die Flocken stürzten,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher