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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein
Autoren: Stewart O'Nan
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bevor diese auf den Boden sanken. Emily hielt sich nie lange in der Wohnung auf, obwohl sie manchmal, wenn Arlene sie beauftragte, etwas zu holen, die Alben durchblätterte, die Arlene angehäuft hatte, um die Fortschritte ihrer Schüler zu verfolgen. Sie hatte dreißig Jahre lang an derselben Schule unterrichtet, trotz großer, schrecklicher Veränderungen, während die Gegend immer mehr heruntergekommen und gefährlicher geworden war. Zweimal war sie überfallen worden, und doch hatte sie nie in Erwägung gezogen, zu kündigen oder sich versetzen zu lassen. Wie Henry hatte sie eine übermenschliche Gedulcl und eine unerschütterliche Hingabe an ihren Beruf, die Emily nicht richtig begriff, aber um die sie Arlene beneidete. Zusammen mit den Klassenfotos fanden sich unter den vergilbten Zeitungsausschnitten über Abschlussfeiern und Hochzeiten, über militärische Beförderungen und Geburten auch jahrzehntealte Todesanzeigen von halbwüchsigen Jungen. Das waren Arlenes Kinder, und doch wusste Emily nichts von ihnen, und diese Entdeckung verlieh Arlene - deren bindungsloses Leben ihr so unscheinbar vorgekommen war - etwas Geheimnisvolles.
    Wenn sie die Wohnung abschloss, war der Tag fast vorbei. Jetzt musste sie sich beeilen, um es noch zum Giant Eagle oder dem Rite-Aid zu schaffen und nach Hause zu kommen, bevor sie von der untergehenden Abendsonne geblendet wurde. Der Verkehr war dichter, und statt sich hindurchzukämpfen, verschob sie die Fahrt manchmal auf den nächsten Tag, mit dem Ergebnis, dass sie im Lauf der Woche ständig irgendwohin fahren musste.
    Rufus war berechtigterweise unglücklich über ihren neuen Tagesablauf, doch das entschuldigte nicht, dass er ihre benutzten Papiertaschentücher aus dem Abfall holte und sie auf der Badematte zerfetzte. Sie schimpfte ihn aus, ging aber nach dem Abendessen als Wiedergutmachung für ihre Abwesenheit einmal mit ihm um den Block. Es war kühl und feucht, und das schwache Licht der Straßenlaternen färbte ihren Atem. Im Allgemeinen ging sie abends nicht mehr vor die Tür, und auf dem Weg durch die Dunkelheit an der Hecke der Coles kam sie sich abenteuerlustig und kühn vor, als würde sie etwas Verbotenes tun.
    Von der ganzen Rennerei und der Anstrengung, sich in der Öffentlichkeit aufzuhalten, war sie todmüde und ertappte sich dabei, wie sie vor dem Fernseher gähnte. Wenn Jeopardy vorbei war, rief sie Arlene an, um zu fragen, ob sie für den nächsten Tag irgendwas brauche, ließ Rufus ein letztes Mal raus, ging dann nach oben und schaltete ihre Heizdecke ein, um das Bett vorzuwärmen.
    Sie entkleidete sich, zog ihren Morgenrock an und legte sich hin, um ein bisschen zu lesen, erstaunt, wie wenige Seiten sie im Krankenhaus geschafft hatte. Die abendliche Musik auf QED war überladen, große laute Konzertmitschnitte von Klassikern, auf die sie für den Rest ihres Lebens gut verzichten konnte, während ein schlichtes Präludium mit Fuge von Buxtehude oder eine von Purcells Hymnen perfekt gewesen wären, und doch ließ sie die Musik leise laufen, und jedes Husten im Publikum rief ihr die vielen Konzerte ins Gedächtnis, die sie und Henry in der Heinz Hall als langjährige Abonnenten ertragen hatten, wenn die Orchester durch dieselben schmalzigen Schumann-, Brahms- und Berlioz-Stücke mäandert waren.
    Jeden Abend versuchte sie zu lesen, doch sie hatte den Geschmack von Zahnpasta im Mund, und ihre Gedanken waren rastlos und beschäftigten sich mit all den kleinen Arbeiten und Besorgungen, die unerledigt geblieben waren. Sie musste Teebeutel kaufen und die Gasrechnung bezahlen, sie wollte den Wagen auslüften und die Sitze mit Febreze einsprühen - aber da sie wusste, dass sie all das vergessen würde, wenn sie es nicht notierte, zog sie die Nachttischschublade auf, suchte Stift und Block und erstellte eine Liste, damit sie am nächsten Morgen dem vor ihr liegenden Tag einen Schritt voraus war.
    Sie hoffte, Arlene würde spätestens am Freitag entlassen werden. Als der Arzt sagte, sie wollten sie noch übers Wochenende beobachten, war Arlene geknickt.
    «Ich will einfach in meinem eigenen Bett schlafen», klagte sie.
    «Es sind doch nur noch zwei Tage», erwiderte Emily und tätschelte ihr die Hand, doch sie konnte sie gut verstehen. Gerade sie wusste, wie leicht einem die eigene Welt genommen werden konnte.
     
    Fast wieder normal
     
    Trotz ihrer halbherzigen Proteste brachten sie Arlene im Rollstuhl nach unten. Das hatte nichts zu bedeuten, es war in
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