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Elsa ungeheuer (German Edition)

Elsa ungeheuer (German Edition)

Titel: Elsa ungeheuer (German Edition)
Autoren: Astrid Rosenfeld
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beobachtet, wie er in einem Neoprenanzug, sein Mountainbike auf den Rücken geschultert, viele Male den Stausee durchschwommen hatte, bis er plötzlich einen Arm in die Höhe riss und sich nicht mehr regte.
    Gustav Gröhler, Sportlehrer und Marathonläufer, erlitt während seines Triathlon-Trainings am heißesten Tag des Jahres einen Schlaganfall. Man begrub ihn nur wenige Zentimeter neben Elsas Stiefeln. Dass er mit einem Fahrrad den See durchquert hatte, ist auf seinen Ehrgeiz zurückzuführen und nicht auf das Regelwerk des Triathlons.
    Dann, am Morgen des 29.   August, wachte Randolph Brauer nicht mehr auf. »Ein gnädiger Tod«, sagte Grievenhast, als er das Zimmer betrat.
    Ich rief meinen Bruder an, konnte aber nur Vera erreichen.
    »Lorenz geht es nicht gut«, sagte sie.
    »Unser Vater ist tot.«
    Es dauerte einige Minuten, bis ich seine Stimme hörte. Er klang verwirrt. »Ich kotze seit Tagen.«
    »Papa ist tot.«
    »Und jetzt?«
    »Was? Und jetzt?«
    »Kann man da noch was machen?«
    »Er ist tot, er wird beerdigt, mehr kann man nicht mehr machen. Kommst du?«
    »Wohin?«
    »Lorenz, gib mir Vera!«
    Sie war sofort wieder am Apparat.
    »Was hat er?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Am Mittwoch ist das Begräbnis, sag ihm das.«
    Der Esel, die Ponys und die Katzen fielen in meinen Aufgabenbereich. Ich bemühte mich, die Ponys als Verwandte der Einhörner und der geflügelten Pferde zu betrachten und sie nach Jahren der Abneigung in mein Herz zu schließen.
    Wenn ich nicht schlafen konnte, schleppte ich meine Matratze in den Garten. Es war nicht der texanische Himmel, doch auch hier fand ich Frieden und dankte im Stillen dem einzigen Bewohner des Green House .
    Elsa blieb das Maß aller Dinge. Aber die Erinnerungen an das Mädchen, an die Frau, verlangten keine Konsequenzen, keine Taten. Es waren Bilder, die zu einem Teil von mir wurden.
    Oft dachte ich an die Worte meiner Mutter.
    ›Lorenz, du wirst niemals alleine sein. Warum?‹
    ›Weil ich Karl habe.‹
    ›Karl, du wirst niemals alleine sein. Warum?‹
    ›Weil ich Lorenz habe.‹
    Ich konnte ihm verzeihen, dass er sich genommen hatte, was mir das Liebste war.
    Ich konnte ihm nicht verzeihen, wie unachtsam er es behandelt hatte.
    Ende September ging Frau Kratzler von uns. Es geschah beim Abendessen. Sie schlürfte ihre Suppe, legte den Löffel zur Seite und sagte: »Jetzt sterbe ich.«
    Wenige Sekunden später war sie tot. Sie hinterließ mir ihre gesamten Ersparnisse und eine offene Frage: War Frau Kratzler wirklich die älteste Frau der Welt?
    Es stellte sich heraus, dass unsere Haushälterin nicht gemeldet gewesen war, nicht einmal krankenversichert. Arztbesuche hatte sie stets bar bezahlt. Reisepass, Personalausweis, Taufschein blieben unauffindbar. So hat anscheinend jeder seine Geschichte.
    Im Gedenken an vergangene Kindertage zwang ich den Steinmetzen, 1800 als Frau Kratzlers Geburtsjahr in den Marmor zu meißeln.
    Ich sparte mir den Anruf bei meinem Bruder, schließlich war er nicht einmal bei der Beerdigung unseres Vaters aufgetaucht. Aber als ich den Grabstein in Auftrag gab, stellte ich mir vor, wie Lorenz und ich eines Tages zusammen die letzte Ruhestätte der ältesten Frau der Welt besuchen würden. Ich konnte unser Gelächter hören, wie wir lachen würden!
    Nach der Trauerfeier kündigte Ewa mit der Begründung, dass es sich für eine unverheiratete Dame nicht zieme, allein bei einem ledigen Mann – Priester ausgenommen – zu wohnen und zu arbeiten.
    Ewa war 71   Jahre alt.
    In meinem Haus war es still geworden.
    Manchmal griff ich zum Telefon und wählte Lorenz’ Nummer, legte aber auf, bevor das Freizeichen ertönte. Was hätte ich ihm sagen können? Was sagen wollen? Ich hatte das Schiff verlassen.
    Am Heiligabend, den ich mit dem Esel und einer Schar Katzen feierte, rief er mich an. Im Hintergrund Musik und Stimmengewirr. »Ich bin mit Vera und ein paar Leuten in Marrakesch. Warum bist du nicht mitgekommen?«
    »Warum ich nicht mitgekommen bin?«
    » MARRAKESCH !«, brüllte Lorenz.
    Er war zugedröhnt, seine Sätze unvollständig. Ich wollte das Gespräch beenden.
    »Nein. Nein. Bitte noch nicht. Was gibt’s Neues? He? Was gibt’s? Was gibt’s?«
    Ich erzählte von Frau Kratzlers Tod, von den fehlenden Dokumenten, aber er hörte nicht richtig zu.
    »Grüß die Kratzlerin«, sagte er schließlich.
    »Sicher. Also dann…«
    »Karl?«
    »Ja?«
    »Ich habe es vergessen«, flüsterte er.
    »Was hast du vergessen?«
    »Ich habe
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