Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Elixir

Elixir

Titel: Elixir
Autoren: H Duff
Vom Netzwerk:
ausgewählt hatte, erwähnte sie Dad mit keinem Wort. Das ging so seit dem Tag, an dem er beerdigt worden war: in einem leeren Sarg, unter einem Grabstein, der nie seine letzte Ruhestätte markieren würde. Sie hatte mir rundheraus gesagt, dass sie nicht über ihn sprechen könne und ich das bitte akzeptieren solle. Punkt. Am Anfang war es hart, aber da sie, nachdem sie ihren Sitz im Senat bekommen hatte und ein wichtiges Mitglied des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten geworden war, ständig durch die Welt reiste, verbrachten wir so wenig Zeit miteinander, dass ich in unseren wenigen gemeinsamen Stunden nicht mit ihr streiten oder sie aufregen wollte. Also riss ich mich zusammen und sprach nur über unverfängliche Dinge. Das schuf eine Kluft zwischen uns– aber weil ich die nicht überbrücken konnte, ohne ihr wehzutun, ließ ich es gut sein.
    Aber sie hatte mir Schwertlilien geschickt, die Lieblingsblumen meines Vaters. Ich berührte das Amulett an meinem Hals und fühlte mich glücklich und leer zugleich. Am liebsten hätte ich meine Mom angerufen und ihr gesagt, dass ich auch so verstand, was sie nicht aussprechen konnte. Ich wollte ihr mein Herz ausschütten und ihr von meinen Albträumen erzählen, wie dunkel es noch immer in mir drin aussah, doch ich wusste, dass sie irgendeine Ausrede finden würde, um das Gespräch zu beenden, sobald ich mit dem Thema anfing.
    Bei meiner Mutter konnte ich keinen Trost finden… aber vielleicht bei meinem Vater. Es war kein großer Trost, aber es half wenigstens ein bisschen. Ich nahm eine Schwertlilie aus der Vase und ging nach oben in sein Büro.
    Die meisten Leute denken bestimmt, Grant Raymond, der renommierteste Herzchirurg der Welt, hätte auf Ordentlichkeit Wert gelegt. Dass bei ihm alles makellos gewesen wäre, ja vielleicht sogar steril. Falsch gedacht. Mein Vater war nicht schlampig, aber er mochte es, wenn seine Umgebung sein Denken widerspiegelte: vielseitig, kreativ und divergent. Im OP brauchte er absolute Ordnung. Überall sonst regierte das Chaos.
    Zudem musste er noch ein Manko ausgleichen: Obwohl er eine unendliche Anzahl kompliziertester Operationstechniken und genug nebensächliche Details und Belanglosigkeiten im Kopf hatte, um jeden Wer-wird-Millionär-Champion alt aussehen zu lassen, konnte er sich einfache Dinge wie Telefonnummern oder Verabredungen nicht merken. Deshalb notierte er sich alles. Auf jedes Stück Papier, das ihm gerade unter die Finger kam. Dadurch sah sein Büro aus, als hätte der Himmel seine Schleusen geöffnet und vierzig Tage und vierzig Nächte Zettel geregnet. Und am Grund dieses aufgewühlten Ozeans standen und lagen unzählige Modelle des menschlichen Herzens, Nachschlagewerke und Notizbücher voller Ideen und begeistertem Gekritzel.
    Berühmte Kliniken und medizinische Fachzeitschriften aus der ganzen Welt hatten gefleht, Experten herschicken zu dürfen, um all dieses Material zu sichten, für den Fall, dass Dad Notizen hinterlassen hatte, die der Kardiologie große Fortschritte eröffneten. Mom hatte die Anfragen unbeantwortet beiseitegelegt, doch weil sich irgendjemand darum kümmern musste, war es an mir hängen geblieben. Ich verstand die Argumente dieser Leute. Mein Verstand sagte mir, dass sie recht hatten– die Welt sollte von Dads Wissen profitieren. Wenn irgendetwas in seinem Büro auch nur ein einziges Leben retten oder verbessern konnte, hätte er gewollt, dass die Information weitergegeben würde. Aber fremde Leute in seinem Zimmer herumwühlen zu lassen, kam mir wie eine endgültige Entweihung vor. Wie eine Autopsie. Mir war klar, dass das Unsinn war, aber genauso fühlte es sich für mich an. Vielleicht würde ich in ein paar Jahren meine Meinung ändern, vielleicht auch nie.
    Ich schlängelte mich zu Dads Schreibtisch durch, setzte mich auf seinen Stuhl und nahm seine Lieblingshaltung ein, indem ich mich ganz weit zurücklehnte und den Blick über das prächtige Chaos schweifen ließ. Ich wartete darauf, dass sich wie üblich dieses Gefühl seiner Anwesenheit einstellte.
    Doch das tat es nicht.
    Irgendetwas stimmte nicht.
    Irgendetwas in dem Zimmer war anders.
    Ich konnte den Finger nicht darauf legen, aber ich spürte es. Dinge waren bewegt oder irgendwie verändert worden. Vielleicht waren sie danach wieder zurückgestellt worden, damit es nicht so auffiel, aber ich spürte eine schwer zu fassende Veränderung in diesem Raum. Ich merkte, wie Panik in mir hochstieg. Dieses Büro war eine wichtige
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher